Noch ist längst nicht entschieden, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird. Donald Trump und Joe Biden liefern sich derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Und doch lassen sich aus dieser Wahlnacht schon Schlüsse ziehen. Zum Beispiel der, dass Trump noch immer viele Amerikaner begeistert. Wir haben die sieben Lehren aus der US-Wahl zusammengefasst:
Lehre Nummer 1: Der Trumpismus ist lebendig
Nicht nur das enge Rennen um das Weiße Haus zeigt, wie gespalten die USA sind. Donald Trump hat in seinen vier Jahren als US-Präsident alles dafür getan, seine Anhänger und seine Gegner gegeneinander aufzubringen. Ein Versöhner war Trump nie. Und doch ist er keineswegs nur ein Ausrutscher der Geschichte – er ist das Symptom einer Entwicklung, die bereits vor Jahren eingesetzt hat. Die Gräben in den USA waren längst da, die Kluft zwischen Stadt und Land, arm und reich, konservativ und liberal wurden immer unüberbrückbarer. Doch anstatt diese zu überbrücken, hat der Präsident mit verbalen Angriffen und Ausfällen die Stimmung angeheizt.
Trumps Präsidentschaft war sozusagen das Superspreader-Event des Hasses. Die Anhänger Donald Trumps würden auch mit einer Wahl Joe Bidens nicht verschwinden, sollte Trump gewinnen, werden sie selbstbewusster denn je ihre Stimme erheben. Die Konflikte werden immer wieder aufbrechen – denn es geht um viel. Die Konservativen fürchten um ihren Lebensstil und um ihre Werte, die Liberalen träumen von einem bunten Amerika, in dem auch Minderheiten die gleichen Rechte haben. Den jeweiligen Anhängern geht es inzwischen nicht mehr darum, das andere Lager zu überzeugen – sondern zu vernichten. Sieg oder Verderben, das ist das Motto.
Lehre Nummer 2: Der Supreme Court ist konservativ
Es schien für europäische Augen eher eine Randnotiz zu sein: Trump besetzte Richterstellen am Supreme Court mit konservativen Kandidaten. Müssen Richter nicht neutral sein? Nicht am so wichtigen höchsten Gericht in den USA. Es dient als verlängerter Arm der Politik. Deshalb war es Donald Trump auch so wichtig, die Position der verstorbenen liberalen Richterin Ruth Bader-Ginsburg an die konservative Amy Coney Barrett zu übertragen.
Schon vorher hatte er durch Postenbesetzungen für eine Verschiebung der Macht gesorgt und damit seinen wohl größten Triumph errungen. Denn die Richterstellen werden auf Lebenszeit vergeben. Selbst wenn die Präsidentschaft von Trump also endet, kann er sicher sein, dass wichtige Entscheidungen auch künftig in seinem Sinne entschieden werden können. Immer wieder muss das höchste Gericht in den USA über die Ausrichtung des Landes urteilen: Frauenrechte, gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibung, Obamas Gesundheitsreform – der Supreme Court hat das letzte Wort.
Lehre Nummer 3 aus der US-Wahl: Die Republikaner werden Trumps Politk fortsetzen
Selbst wenn Donald Trump am Ende dieses denkwürdigen Kopf-an-Kopf-Rennens gegen Joe Biden verlieren würde, hat er seiner Partei doch gezeigt, dass seine Basis deutlich stärker hinter ihm steht als viele seiner Gegner sich das wünschen würden. Die Republikaner mögen mit dem Stil Trumps hadern, sie mögen sein massives Schuldenmachen verabscheuen, seine Außenpolitik nur zähneknirschend hinnehmen – doch sie können es sich kaum leisten, die Anhänger Donald Trumps zu verprellen. Sie haben sich ihm längst unterworfen. Lügen? Pah – alternative Fakten. Affären – er ist halt ein ganzer Kerl. Korruption – Trump ist eben Geschäftsmann.
Im Gegensatz zu den Demokraten, die nach dem Abgang von Barack Obama planlos zurückblieben, haben die Republikaner auch Personal, das die Politik Trumps fortsetzen könnte. Ein möglicher Nachfolger wäre Tucker Carlson, Fox-Moderator und mächtiger Unterstützer des Trumpismus. Aber auch Trump-Sohn Donald Junior könnte in die Politik streben. Nur bei einer schmerzhaften Niederlage wäre es für die Republikaner möglich gewesen, komplett mit dem System zu brechen und die Distanzierung von Trump sozusagen als Akt der Selbstreinigung zu verkaufen.
Lehre Nummer 4: Die Demokraten brauchen dringend eine charismatische Figur
Schon die Vorwahlen wurden für die demokratische Partei zum Fiasko. Kaum einer der Kandidaten konnte die Massen in Wallung versetzen. Auf Joe Biden als Präsidentschaftskandidat hätte noch vor einem Jahr wohl kaum jemand getippt. Der 77-Jährige hat zwar eine lange politische Karriere hinter sich – doch gerade deshalb schien er ein Mann der Vergangenheit. Immer wieder blamierte er sich mit verpatzten Auftritten, wofür er steht, ist nicht immer klar. Sein Vorteil: Er ist das menschgewordene Gegenteil von Donald Trump. Das brachte viele Amerikaner dazu, ihn – wenn auch mit Bauchschmerzen – zu wählen.
Bidens größter Coup könnte auch seine Partei retten: Die Nominierung von Kamala Harris als seine Vizepräsidentschaftskandidatin. Harris ist die Tochter von Einwanderern aus Indien und Jamaika - sie weiß also, wovon sie redet, wenn sie sich zum Thema Rassismus äußert. Das hat einen entscheidenden Vorteil: Ihr wird zugetraut, schwarze Wähler zu motivieren, die für einen Sieg eine wichtige Rolle spielen. Und doch könnte sie eben – wie schon Barack Obama – die Republikaner genau aus diesem Grund stärken. Nichts verbindet Wähler schließlich stärker als ein gemeinsames Feindbild.
Lehre Nummer 5: Die Wirtschaft ist bei der US-Wahl entscheidend
Nicht die Pandemie ist das wahlentscheidende Thema in den USA, sondern die Wirtschaft. Deshalb hat Donald Trumps Missmanagement in der Corona-Krise auch nicht die von den Demokraten erhofften negativen Effekte auf die Wahl. Bis in den März hinein ist es dem Präsidenten tatsächlich auch gelungen, die Wirtschaft stark anzukurbeln. Er senkte die Steuern (vor allem für Reiche) genauso wie die Arbeitslosenzahlen.
Biden hingegen ging mit der Ankündigung in den Wahlkampf, Bürger mit hohen Einkommen und Unternehmen wieder stärker zur Kasse zu bitten. Für die Menschen in den USA ist es egal, dass liberale Medien immer wieder berichten, dass es in den 90er-Jahren unter Bill Clinton ein viel schnelleres Wirtschaftswachstum gegeben habe. Für sie ist es entscheidend, was sie heute und morgen im Geldbeutel haben.
56 Prozent der Amerikaner sagten in einer Befragung des Instituts Gallup kurz vor der Wahl, ihnen und ihren Familien gehe es besser als vor vier Jahren - und das mitten in der Pandemie. Auch der Hinweis, dass die bessere Lage auf dem Wirtschafts- und Arbeitsmarkt bereits unter Barack Obama eingesetzt habe, verhallt. Auch, weil es Trump gelingt, alle Erfolge lautstark für sich zu reklamieren und damit wichtige Pflöcke zu schalgen. Um seinen Wachstumskurs zu befeuern, opferte Donald Trump zudem den Umweltschutz, der vielen seiner Wähler ohnehin zu weit geht. Just am Wahltag stiegen die USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aus.
Lehre Nummer 6: Deutschland hat die Stimmung in den USA unterschätzt
Eigentlich hätte der Wahlausgang vor vier Jahren eine Lehre sein können. Die halbe Welt setzte auf Hillary Clinton als nächste US-Präsidentin – die Geschichte ging bekanntlich anders aus. In diesem Jahr wagte zwar kaum jemand, Joe Biden schon voreilig als Präsidenten auszurufen, doch insgeheim glaubten Deutschland und Europa an eine krachende Niederlage für Trump. Und nicht nur die Statistiker der renommierten Webseite FiveThirtyEight hatten Trump vor der Wahl nur eine Chance von zehn Prozent auf einen Sieg ausgerechnet. Sie hatten zugleich gemahnt: „Denken Sie daran, dass eine zehnprozentige Gewinnchance keine nullprozentige Chance ist. Sie ist ungefähr so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Innenstadt von Los Angeles regnet. Und, ja, es regnet dort tatsächlich.“ Nun ist das Rennen offen.
Ein Sieg des Republikaners würde Deutschland nach Ansicht des CDU-Außenpolitikers Norbert Röttgen kalt erwischen. „Wir sind darauf nicht vorbereitet“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag am Mittwochmorgen in der ARD. Sollte Trump für vier weitere Jahre Präsident bleiben, würde es eine Steigerung all dessen geben, was man in der ersten Amtszeit erlebt habe. „Es macht einen Unterschied, ob man vier Jahre die Nato überraschend in Zweifel zieht, oder ob das acht Jahre lang passiert.“ Offen haben deutsche Politiker über Trump gelästert, der Wunsch nach einem politischen Wechsel war offensichtlich - für das künftige deutsch-amerikanische Verhältnis verheißt das nichts Gutes.
Lehre Nummer 7: Die nächsten Tage werden kritisch
Seit Woche macht Donald Trump Stimmung gegen die Briefwahl, er fordert ein schnelles Ergebnis – das es nach jetzigem Stand nicht geben wird. Doch selbst wenn die Zahlen vorliegen, könnte es heikel werden. So knapp wie der Wahlausgang sein dürfte, so empört dürften die jeweiligen Anhänger des Wahlverlierers sein. Die Gerichte erwarten eine Klagewelle. Auf die Schlammschlacht im Wahlkampf wird wohl eine juristische Schlammschlacht folgen.
Doch vor allem die Furcht vor Ausschreitungen wächst. Schon in der Wahlnacht wurden in vielen Städten Barrikaden aufgebaut. Trump macht vorsorglich schon einmal Stimmung: Er wolle sich den Sieg nicht mehr nehmen lassen. „Sie versuchen, die Wahl zu stehlen“, schrieb er auf Twitter. Der Kurznachrichtendienst versteckte das Posting schnell hinter einem Warnhinweis.
Bei einer ersten Ansprache am frühen Morgen deutscher Zeit stellte er auf offener Bühne noch einmal klar, dass er sich als klarer Sieger sieht und er es sich vorbehält, vor den (von Konservativen dominierten) Supreme Court zu ziehen. Dem Land droht damit eine massive Verfassungskrise.
Nicht nur der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, macht sich Sorgen. Mit Blick auf die kommenden Wochen brauche es bald „Klarheit, wer die größte militärische und auch wirtschaftliche Macht unserer Zeit verantwortlich führt“, sagte er. Dass das Rennen zwischen Präsident Donald Trump und Herausforderer Joe Biden sehr knapp verlaufen könnte, habe er erwartet. „Und das bestätigt sich. Es zeigt sich, dass die amerikanische Gesellschaft doch sehr tief gespalten ist.“
Alle Entwicklungen bei der US-Wahl lesen Siein unserem Live-Blog.
Lesen Sie zur US-Wahl auch:
- Warten, warten, warten: Was wir über die US-Wahl wissen – und was nicht
- Nervenkrimi im Rostgürtel: So lief die US-Wahlnacht bisher
- Vor Ort am Wahltag: Es bleibt seltsam ruhig in New York