Zu alt. Zu wenig charismatisch. Zu fehleranfällig. Zu sehr verwurzelt im Establishment. Zu sehr mäandernd zwischen den politischen Polen als dass er für eine klare Richtung stehen würde. Es gibt viele Gründe, die gegen diesen Joseph Robinette Biden als nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten gesprochen haben. Und doch ist da dieses eine Argument, das über allem steht und das ihn letztlich in Weiße Haus gebracht hat: Er ist das menschgewordene Gegenteil von Donald Trump. Wo Trump Hass sät versucht Biden zu einen. Wo Trump laut tönt, bleibt Biden besonnen. Wo Trump über Leichen geht, zeigt Biden Empathie. Um nicht weniger als um die "Seele dieser Nation" will er nun kämpfen. Und kämpfen, das hat Joe Biden in seinem Leben immer wieder bewiesen, das kann er.
Für Joe Biden ist es der Höhepunkt einer langen Karriere in der Politik
Dass es der 77-Jährige im dritten Anlauf doch noch geschafft hat, das Amt des amerikanischen Präsidenten zu erobern, ist der Höhepunkt einer langen Karriere, die in der Nixon-Ära ihren Anfang nahm und heute eng mit der Präsidentschaft von Barack Obama verbunden wird. "Ich bewunderte und mochte Joe schnell als einen Mann, der früh lernte, jeden mit Würde und Respekt zu behandeln", sagte Obama im Wahlkampf über seinen einstigen Stellvertreter. "Das Gefühl der Empathie, dieses Gefühl des Anstands, der Glaube, dass jede einzelne Person zählt, das ist, was Joe ausmacht."
Mit nur 29 Jahren stieg Joe Biden zum Senator
Joe Biden sieht sich selbst als einen Mann der Arbeiterschaft, als Anwalt der kleinen Leute. Sein Vater war Autohändler, er selbst studierte Jura, beginnt Sätze mit den Worten "Meine Mutter würde sagen…". "Biden war ein mittelmäßiger Student mit großen Ambitionen, ein geselliger junger Fußballspieler aus einer irisch-katholischen Familie, der sein Stottern überwunden hatte und davon träumte, als Präsident zu kandidieren", schreibt die New York Times in einem Porträt. Er war keiner der demonstrierte, der mit Regeln brach, der rebellierte. Schon als junger Mann wurde Biden in den Stadtrat seines Heimatortes Wilmington gewählt, dort lebt er noch heute mit seiner zweiten Frau Jill. Mit nur 29 Jahren stieg er zum Senator auf, lange 36 Jahre sollte er dort Delaware vertreten. Er setzt sich für Institutionen ein, investiert in Infrastruktur und Wirtschaftswachstum – klassischer als Biden kann man Politik nicht verstehen und betreiben. Der Demokrat beschwört die guten alten Zeiten herauf, die im Rückblick so manche Stolperfalle für ihn bereithielten. Bei den Präsidentschaftswahlen 1988 und 2008 wollte er als Kandidat für seine Demokraten antreten. Beim ersten Mal stolperte er über eine Plagiatsaffäre. Beim zweiten Mal hatte er keine Chance gegen Barack Obama.
Joe Bidens Privatleben ist von Schicksalsschlägen geprägt
Dass er bei den Amerikanern trotzdem nicht den Ruf des Verlierers hat, hat vor allem mit seinem Privatleben zu tun, das von Schicksalsschlägen geprägt ist und wo er beweisen konnte, dass auf jedes Straucheln eine politische wie menschliche Wiederauferstehung folgen kann. Während er im Jahr 1972 für seinen Einzug in den Senat kämpfte, starben seine erste Frau Neilia und die gemeinsame Tochter bei einem Autounfall. Die Söhne Beau und Hunter wurden verletzt, um sie musste sich Joe Biden fortan als alleinerziehender Vater kümmern. Es ist das Trauma seines Lebens. Im Jahr 2015 traf ihn das Schicksal erneut hart. Sein Sohn Beau starb an den Folgen eines Hirntumors. Hunter Biden, der jüngste Sohn der Familie, hatte immer wieder mit Drogenproblemen zu kämpfen. Seine Verletzlichkeit berührt. Es war Jill Biden, Joes zweite Frau, die zur großen Stütze der Familie wurde. Die beiden verbindet eine große Liebe, die mit jeder Faser zu spüren ist. Auch hier könnte der Kontrast zum irgendwie künstlichen Glamour-Paar Donald und Melania kaum größer sein.
Nun ist Biden der älteste Kandidat, der es je ins Amt des US-Präsidenten geschafft hat. Mehr als eine einzige Amtszeit strebt er von vornherein nicht an. Er wird es schwer haben Mehrheiten zu finden und mit Visionen zu punkten. Der Mann der Mitte ist so etwas wie ein Platzhalter, in Puffer zwischen den Trump-Jahren und einem echten Aufbruch, den dieses Land braucht. Und vielleicht wird das im Rückblick einmal sein größter Coup gewesen sein: Dass er Kamala Harris zu seiner Vizepräsidentin gemacht hat – und so das Fenster in Richtung Zukunft schon jetzt einen Spalt weit geöffnet hat.
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