Nach sechs Minuten hatte sich dieser EU-Sondergipfel im Grunde erledigt. So viel Zeit war am Donnerstagvormittag vergangen zwischen der Bekanntgabe, dass das Spitzentreffen in Brüssel offiziell begonnen hatte – und dem Tweet der Erleichterung von EU-Ratspräsident Charles Michel um 11.26 Uhr: „Wir haben einen Deal.“ Viktor Orbán hatte sein Veto gegen neue Finanzhilfen für die Ukraine aufgegeben.
Einzig wegen des ungarischen Ministerpräsidenten waren die übrigen 26 EU-Staats- und Regierungschefs an diesem Tag nach Brüssel gereist. Das trug nicht gerade zu einer heiteren Stimmung bei. Dann erzielten die Staatenlenker den Durchbruch auch noch im Vorfeld des Gipfels und in kleiner Runde. Bundeskanzler Olaf Scholz, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, EU-Ratspräsident Charles Michel sowie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trafen sich am Donnerstagvormittag mit Orbán im elften Stock des Brüsseler Ratsgebäudes zum „Frühstücks-Meeting“ bei Wasser und Kaffee.
EU-Staatschefs überredeten Viktor Orbán im kleinen Kreis
Der Ungar spielte die Zusammenkunft als „zwangloses Treffen am Morgen“ herunter. Manche würden später von einem finalen Versuch des Aufbäumens sprechen. Orbán wollte persönlich ausloten, wie viel Spielraum ihm blieb in den Gesprächen, wo die roten Linien der Partner liegen. Könnte der Autokrat noch etwas und vor allem mehr Geld für sich herausholen in den Verhandlungen? Doch das Spiel war zu diesem Zeitpunkt längst aus. Orbán war völlig isoliert im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs, die Geduld mit dem Dauer-Störenfried aus Budapest aufgebraucht.
Scholz und Co. meinten es ernst, das schien auch der Ungar zu spüren: Er lenkte ein „um der Einheit willen“, wie es später hieß, auch wenn Orbán, der enge Beziehungen zum Kreml pflegt, mehrfach bekräftigt haben soll, dass er den Kurs der Gemeinschaft in Sachen Ukraine weiterhin für falsch hält. Schlussendlich stimmten die 27 Staats- und Regierungschefs geschlossen dem Unterstützungspaket für das von Russland angegriffene Land im Umfang von 50 Milliarden Euro für die Zeit bis Ende 2027 zu. Was also wurde ihm für sein Ja versprochen? Diplomaten zufolge „nichts“.
Ukraine-Hilfe wird in vier Tranchen ausgezahlt
Wie ursprünglich geplant sieht die Einigung vor, dass das Geld in Tranchen über vier Jahre ausgezahlt wird. Einmal im Jahr immerhin sei man bereit, über die Umsetzung des Hilfsprogramms zu reden. Nach zwei Jahren gibt es künftig zudem die Möglichkeit, von der EU-Kommission eine Überprüfung der Finanzhilfen anzufordern. Anders als von Budapest verlangt, erhält Ungarn jedoch keine Option, ein Veto einzulegen. Stattdessen haben die Spitzenpolitiker den Mechanismus umgedreht. So bräuchte es die einstimmige Entscheidung aller Staats- und Regierungschefs, um die Zahlungen zu stoppen oder Änderungen durchzusetzen. Das heißt: Stellt sich Orbán also auch nach der Revision in zwei Jahren quer, passiert nichts. Die Milliarden fließen weiter nach Kiew. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte erleichtert: Die fortgesetzte finanzielle Unterstützung der EU für die Ukraine werde „die langfristige wirtschaftliche und finanzielle Stabilität stärken, was nicht weniger wichtig ist als militärische Hilfe und der Sanktionsdruck auf Russland“.
Eigentlich hatte die Gemeinschaft das Milliardenpaket schon im Dezember beschließen wollen. Doch das scheiterte am Veto von Orbán. Seitdem liefen die Gespräche, täglich nahm die Nervosität in Brüssel zu. Für zahlreiche Mitgliedstaaten handelt es sich bei der Ukraine-Unterstützung um „eine existenzielle Frage“. Ein Diplomat zog gar den Vergleich zu einem „vorzeitigen Austritt aus der EU“, würde Orbán auf seinem Antikurs beharren.
Die Stimmung hatte sich merklich verändert in den vergangenen Wochen. So versuchten es die Partner nicht mehr nur mit gutem Zureden und Zugeständnissen, sondern neuerdings mit Warnungen. Ob diese ernst gemeint waren, ließ sich zwar nicht klar sagen. Dennoch schien die aufgebaute Drohkulisse zu funktionieren.
Hinter vorgehaltener Hand wurde immer wieder über neue Strafmaßnahmen spekuliert, die die EU ergreifen könnte. So bestünde theoretisch etwa die Möglichkeit, die Ratspräsidentschaft der Ungarn, die turnusmäßig im zweiten Halbjahr 2024 den Vorsitz übernehmen, zu verschieben. Noch drastischer wäre der Schritt gewesen, Ungarn nach Artikel 7 des EU-Vertrags das Stimmrecht im Europäischen Rat zu entziehen, also im Gremium der 27 Mitgliedstaaten. Als „nukleare Option“ bezeichnete ein Beamter einen solchen Schritt. Dass allein über solche und ähnliche Lösungen diskutiert wurde, veranschaulicht die aufgestaute Wut in Brüssel.