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Überraschender Rückzug: Grünen-Spitze Lang und Nouripour tritt ab

Omid Nouripour und Ricarda Lang: Die Grünen-Spitze tritt ab.
Foto: Fabian Sommer, dpa
Grüne

Der Rücktritt der Grünen-Spitze – ein Abgang ohne Ansage

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    Manche Erdbeben dauern nicht lange. Im Fall der Grünen sind es knapp dreieinhalb Minuten. Mehr Zeit benötigen Ricarda Lang und Omid Nouripour nicht, um das politische Berlin zu erschüttern.  Am Vormittag laden die beiden Vorsitzenden der Grünen zu einer eilig einberufenen Pressekonferenz in die Parteizentrale ein. „Es braucht neue Gesichter, um die Partei aus der Krise zu führen“, sagt Ricarda Lang dort nüchtern.  Nouripour neben ihr wirkt angefasster, emotionaler. „Das Wahlergebnis in Brandenburg ist das Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“, sagt er. Bis zum Parteitag Mitte November will der sechsköpfige Bundesvorstand zwar noch im Amt bleiben. Danach aber beginnt bei den Grünen eine neue Zeitrechnung. Mit einer neuen Parteispitze. Und mit Robert Habeck als grauer Eminenz darüber.

    Die Entscheidung sei ihr nicht leichtgefallen, sagt Ricarda Lang. Aber jetzt sei nicht die Zeit, am eigenen Stuhl zu kleben, sondern Verantwortung zu übernehmen. Was Politiker eben so sagen, wenn die Umfragewerte in den Keller rauschen, wenn Landtagswahlen in Serie verloren gehen, die nächste Bundestagswahl immer näher rückt und die Partei allmählich nervös wird.  

    Die Grünen auf Talfahrt: Nach sieben Jahren wieder einstellig

    Bei den vier letzten Wahlen, der Europawahl und den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, haben die Grünen drastische Verluste erlitten und ihr Ergebnis in Brandenburg sogar mehr als halbiert. Aus zwei Landtagen flogen sie hinaus, allein in Sachsen gelang ihnen mit 5,1 Prozent noch einmal knapp der Wiedereinzug.  Bundesweit taxiert das Meinungsforschungsinstitut Insa sie im Moment nur noch auf 9,5 Prozent – der erste einstellige Wert seit sieben Jahren. Vor allem bei jungen Wählern punktet die Partei nicht mehr. Ricarda Lang erklärt sich das nicht zuletzt mit der fehlenden Präsenz in den sozialen Medien. Dort müsse die Partei sich besser aufstellen, findet sie. In Brandenburg, zum Beispiel, haben die Grünen bei den 16- bis 24-Jährigen satte 21 Prozentpunkte weniger geholt als bei der Wahl 2019.

    Die graue Eminenz der Grünen: Wirtschaftsminister Robert Habeck.
    Die graue Eminenz der Grünen: Wirtschaftsminister Robert Habeck. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Gut eine Woche vor ihrem Rücktritt steigt Ricarda Lang nach einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg in ein Taxi. Es ist schon dunkel. Keine Menschenseele ist zu sehen, auch in den Häusern ringsum brennt kein Licht mehr. Bis der Wagen kommt, lassen vier Sicherheitsbeamte sie nicht aus den Augen. Erst als sie auf der Rückbank Platz genommen hat,  löst sich die Anspannung etwas. Die Parteichefin zückt schnell ihr Smartphone, blickt kurz auf den Bildschirm und beginnt dann zu erzählen. Ob sie da schon ahnt, dass ihre Tage an der Grünen-Spitze gezählt sein könnten, an der sie mit Nouripour seit Februar 2022 steht? Unklar.  Mit ihren gerade einmal 30 Jahren gehört sie an diesem Abend jedenfalls noch zu  den mächtigsten Frauen in der deutschen Politik – auch wenn ihr das, wie sie im Gespräch mit unserer Redaktion beteuert, nicht immer bewusst sei.

    Im Alltag fährt die Grünen-Chefin ohne Bodyguards U-Bahn und geht auch alleine einkaufen. „Ich achte darauf, kleine Orte der Normalität zu schaffen“, sagt sie. Ricarda Lang, in Filderstadt geboren, in Nürtingen aufgewachsen, abgebrochenes Jurastudium und seit kurzem mit einem Mathematiker verheiratet, gehört zu einer Generation von jungen Menschen, die mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin erwachsen wurden und die sich häufig auch nicht groß für Politik interessierten. Auf der Internetplattform X schrieb sie einmal: Als Jugendliche habe sie gedacht, Feminismus sei etwas für schwache Frauen. Heute sei ihre  Mutter froh, dass die Tochter mit den Jahren klüger wurde.

    Das Machtzentrum bei den Grünen bilden zwei Minister

    Langs Mitvorsitzender Nouripour ist bereits deutlich länger in der Politik. Der in Teheran geborene Deutsch-Iraner ist ein temperamentvoller Außenpolitiker und schon deshalb ein Experte für das Mullah-Regime. Im Streit um das Atomabkommen mit dem Iran und dessen Kündigung durch den früheren US-Präsidenten Donald Trump war er ein gefragter Gesprächspartner. Doch der Einfluss des 49-Jährigen an der Parteispitze blieb begrenzt. Denn das eigentliche Machtzentrum der Grünen bilden Robert Habeck und Annalena Baerbock, ihre beiden wichtigsten Minister. Weder die beiden Parteivorsitzenden noch die beiden Fraktionschefinnen im Bundestag, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, konnten bzw. können es mit ihnen aufnehmen.  

    Nouripour war in der Hierarchie die Nummer drei der Realos hinter Habeck und Baerbock, während Lang zumindest die Nummer eins des linken Flügels war. Nouripour hat immer einen lockeren Spruch wie den von der Ampel auf der Zunge, die nur noch eine Übergangsregierung sei, oder den von der Koalitionsarbeit, die gelegentlich einer Kneipenschlägerei ähnle. Er war der Mann für das grüne Binnenklima, der sich an Parteiabenden auch schon mal als Discjockey versuchte – und obwohl auch er in den stressigen Jahren seit seinem Aufstieg in den grünen Olymp merklich an Gewicht zugelegt hatte, war er nie der Häme ausgesetzt, die sich täglich über seine Co-Vorsitzende ergießt. Ricarda Lang hat einen höheren Body-Mass-Index als andere Frauen – ein gefundenes Fressen für Trolle im Internet. Die Grüne wird dort häufig zur Zielscheibe von Hass und Hetze, aber eher selten wegen ihrer Meinung oder ihrer Parteizugehörigkeit. „Die Kommentare lese ich so gut wie gar nicht, das versuche ich zu vermeiden“, sagt sie an jenem Abend im Taxi. „Einfach, weil ich denke, ich schenke ihnen nicht meine Zeit.“  

    Wie die Grünen sich im November genau aufstellen, knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl, bleibt am Mittwoch noch unklar. Dass aber gleich die ganze Parteispitze zurücktritt und nicht nur die umstrittene, gerade in den USA weilende Wahlkampfchefin Emily Büning: Das haben auch Grüne, die schon lange dabei sind, nicht erwartet. „Aber Respekt vor der Entscheidung“, sagt eine Bundestagsabgeordnete des Realo-Flügels. „Robert baut jetzt sein Machtzentrum auf und die Linken sind sich uneins, ob sie ihre Mandate oder ihr Gewissen retten sollen.“ Ob der starke Mann der Grünen sich dann formell tatsächlich „Kanzlerkandidat“  nennen oder „nur“ als Spitzenkandidat in den Wahlkampf ziehen  wird, muss die Partei allerdings erst noch entschieden.

    Nun soll es Habeck richten

    Sicher ist an diesem Mittwoch nur eines: Am Ende  soll (oder muss) Robert Habeck es richten, der vor der Wahl 2021 noch Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin den Vortritt ließ, lange mit dieser Entscheidung haderte und sich nun in einer deutlich schlechteren Ausgangsposition befindet als sie. Schon, weil die Ampel alle Sympathien verspielt hat und die Grünen vielen Kompromissen zustimmen mussten, die vor allem ihren treuesten Anhängern gegen den Strich gehen: Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, dreistellige Milliardenbeträge für die Bundeswehr, Flüssiggas als Ersatz für das russische Erdgas anstatt einer radikalen Energiewende. Ein grüner Kanzler jedenfalls ist im Moment so unwahrscheinlich wie die deutsche Fußballmeisterschaft für Holstein Kiel, den Bundesliga-Aufsteiger aus seiner Heimatstadt.

    Aufgegeben aber hat Habeck noch nicht. Der Neustart, den  Lang und Nouripour jetzt mit ihrem Rücktritt ermöglichen, sei ein großer Dienst an der Partei, lobt er. Und fügt selbstkritisch hinzu: Die Niederlagen bei den jüngsten Wahlen seien unstrittig vom Bundestrend beeinflusst gewesen. Das Heizungsgesetz, der ständige Streit in der Ampel, die abwehrende Haltung der Grünen bei der Begrenzung der Migration:  „Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich. Und auch ich will mich ihr stellen.“ Im Politbarometer des ZDF ist der Bundesminister für Wirtschaft und Klima auf Platz vier trotzdem der bundesweit beliebteste Grüne.  Ein Realpolitiker. Kein Linker.

    Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 Außenminister.
    Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 Außenminister. Foto: Markus Scholz, dpa

    Die Situation erinnert ein wenig an die des Jahres 2002, als die Grünen schon einmal einen gegen jede Proporz- und Geschlechterlogik einen ganz auf einen Kandidaten zugeschnittenen Wahlkampf führten und ihm für diesen Wahlkampf auch weitgehend freie Hand ließen. „Außen Minister, innen grün“ betitelte die Partei damals die Plakate mit dem Konterfei ihres Außenministers Joschka Fischer – und holte anschließend mit 8,6 Prozent ihr bis dahin bestes Ergebnis. Wie heute die Ampel befand sich damals auch die rot-grüne Koalition von Gerhard Schröder in schwerer See, und wie heute sollte am Ende einer alleine eine grüne Zeitenwende schaffen: Fischer, populär als Außenminister, von der Parteilinken zwar  skeptisch beäugt, aber  bis weit ins bürgerliche Lager hinein vermittelbar. Er, vor allem, sicherte Schröder damals die Wiederwahl und den Grünen weitere drei Jahre in der Regierung. Ein Realpolitiker. Kein Linker.

    Wird Habeck jetzt der neue Fischer? Dem Wirtschaftsminister, so scheint es, schwebt zumindest ein ähnliches Solo vor, nachdem seine Kontrahentin Baerbock vor Beginn der Sommerpause bereits ihren Verzicht auf eine neuerliche Kandidatur erklärt hat. Schon vor dem Rücktritt  des Bundesvorstandes an diesem Mittwoch kursierten in Berlin Gerüchte, Habeck wolle seine Staatssekretärin Franziska Brantner als eine Art persönliche Wahlkampfmanagerin in die Parteizentrale abkommandieren Die 45-jährige aus Baden-Württemberg gehört dem Realo-Flügel der Grünen an, ist eine der engsten Vertrauten des Ministers und könnte nun sogar Parteivorsitzende werden, in einer Doppelspitze mit dem Finanzpolitiker Andreas Audretsch oder dem früheren nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden Felix Banaszak. Motto: neue Besen kehren gut. Um die grüne Krise zu überwinden, sagt der scheidende Vorsitzende Nouripour, „braucht es Veränderung“.  

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    6 Kommentare
    Rainer Kraus

    Die beiden können nichts dafür, nur die Menschen von denen sie gewählt wurden.

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    Maria Reichenauer

    Die Menschen, die sie gewählt haben, können stolz darauf sein, was diese Regierung unter Mitwirkung der Grünen ins Laufen gebracht hat. Das werden alte Spötter nicht mehr verstehen, aber die Jugend wird es einst danken, wenn wir alle schon die Radieschen von unten anschauen.

    Gerhard Sylvester

    Endlich. Es müssen aber noch andere folgen, um den weiteren Absturz Deutschlands aufzuhalten.

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    Maria Reichenauer

    ja, da haben Sie recht: Söder, Huber, Merz, Linnemann usw. die Liste ist lang ... vielleicht geht auch Lindner mit, dann könnte die Regierung endlich zum Wohl des Volkes und in Ruhe arbeiten. Und wenn man damit die AfD pulverisieren ließe … Reisende soll man nicht aufhalten.

    Maria Reichenauer

    Interessant ist für mich, dass ausgerechnet die Anhänger einer Partei, die florierenden Unternehmen wegen ihrers Einsatzes für Vielfalt in Thüringen schlechte Geschäfte wünscht, im Zusammenhang mit der Ampelregierung vom Absturz Deutschlands sprechen. Das soll mir mal einer erklären.

    Franz Wagner

    Die Hauptverantwortlichen für die gescheiterte Politik der Grünen sind eher Habek und Baerbock. Aber gut wenn Lang und Nouriour den Anfang machen!

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