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Türkei: „Möge er uns erhalten bleiben“: Erdogan wird 70

Türkei

„Möge er uns erhalten bleiben“: Erdogan wird 70

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    Der umstrittene Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, wird 70 Jahre alt. Viele Türken verehren den Autokraten, andere sehen die negativen Folgen seiner Politik.
    Der umstrittene Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, wird 70 Jahre alt. Viele Türken verehren den Autokraten, andere sehen die negativen Folgen seiner Politik. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Sein Denkmal hat sich Recep Tayyip Erdogan schon selbst gesetzt. Hoch auf der höchsten Anhöhe von Istanbul hat er die größte Moschee der Türkei errichten lassen, mit sechs Minaretten und Tausenden Lichtern bestückt, die sie nachts funkeln lassen wie ein Märchenschloss. 250 Meter hoch schwebt sie über der Stadt, zehn Kilometer weit vom Arbeiterviertel Kasimpasa, wo Erdogan am 26. Februar 1954 zur Welt kam. Dazwischen liegen der Bosporus, 70 Jahre und eine einmalige Karriere. „Gut, dass es ihn gibt“, sagt eine junge Frau, die an einem Februarmorgen aus einem Bäckerladen gegenüber von der Moschee kommt. Auch wenn sie unter der hohen Inflation zu leiden habe: „Möge er uns erhalten bleiben.“

    Dass Erdogan die Türkei geprägt hat wie kein anderer Politiker seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, streiten selbst seine vielen Gegner im Land nicht ab. Beton und Asphalt zeugen davon: Als Erdogan seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 an die Regierung brachte, gab es in der Türkei nur 6000 Kilometer an vierspurig ausgebauten Überlandstraßen – heute sind es über 20.000 Kilometer. Die Zahl der Flughäfen im Land stieg von 26 auf fast 60. Erdogan reformierte das Gesundheitssystem und machte türkische Kampfdrohnen zu einem Exportschlager.

    Systematisch zertrümmerte Erdogan den Kemalismus in der Türkei

    Nicht nur neue Waffen, auch eine neue Ideologie verpasste der Präsident seinem Land. In einem jahrelangen Machtkampf zertrümmerte er den nach Atatürk benannten Kemalismus, ein verknöchertes System aus Autokratie und religionsfeindlichem Laizismus, das vor allem dem Machterhalt der traditionellen Eliten in Bürokratie, Justiz und Militär diente. Erdogan schaffte das Kopftuchverbot an Universitäten und im öffentlichen Dienst ab und ermöglichte den Aufstieg einer neuen islamisch-konservativen Führungsschicht. Das brachte ihm Millionen loyale Wähler ein. 

    Erdogans Programm einer politischen Öffnung in der Außen- und Innenpolitik, symbolisiert durch den türkischen EU-Beitrittsprozess und Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, wich im Laufe der Jahre einer Alleinherrschaft, die er 2018 mit der Einführung eines stark zentralisierten Präsidialsystems festschrieb. Heute kontrolliert er Politik, Armee, Medien und Justiz. Er lässt politische Gegner und Journalisten einsperren, schickt türkische Truppen nach Syrien und pfeift auf EU-Standards bei Bürgerrechten wie der Meinungsfreiheit. Erdogans Kritiker beklagen Korruption, Vetternwirtschaft und Demokratieabbau, sind aber unter sich so zerstritten, dass sie den „Langen“, wie sie den 1,90-Meter großen Präsidenten nennen, bisher nicht von der Macht verdrängen konnten.

    Vor 30 Jahren wurde Erdogan Oberbürgermeister der Metropole Istanbul

    Sein Durchbruch kam bei der Istanbuler Oberbürgermeisterwahl vor fast genau 30 Jahren. Im März 1994 wurde er zum Stadtoberhaupt gewählt und verschaffte sich durch effiziente und bürgernahe Arbeit viel Respekt. Das macht ihn zum gefährlichen Gegner der damaligen kemalistischen Elite, die ihn wegen angeblicher Volksverhetzung einsperren und mit einem Politikverbot belegen ließ. Nicht einmal Dorfvorsteher könne Erdogan noch werden, spottete die Presse damals.

    Der Ex-Bürgermeister bewies seinen Gegnern das Gegenteil. Im März 2003 wurde er als Ministerpräsident vereidigt, seit 2014 ist er Präsident. Eine ganze Generation Türken hat nie einen anderen Mann an der Spitze des Landes erlebt. Ans Aufhören denkt Erdogan trotzdem nicht. 

    Noch immer sieht sich der Staatschef als Vertreter der frommen Anatolier

    In seiner langen Zeit in hohen Staatsämtern hat sich Erdogan seine persönlichen Grundüberzeugungen bewahrt. Er sieht sich als Vertreter der frommen Anatolier – europäisch orientierte Türken sind ihm bis heute fremd. Kritik und Protest wie bei den Gezi-Unruhen von 2013 versteht er häufig als Umsturzversuche. Wie viele Türken ist er überzeugt, dass westliche Einflüsse darauf abzielten, das Land und den Islam zu schwächen.

    Doch Erdogan bekommt die Inflation nicht in den Griff. Korruption und Pfusch am Bau waren mitverantwortlich für den Tod von 50.000 Menschen bei dem schweren Erdbeben im vergangenen Jahr. Die Abwanderung gut ausgebildeter Türken ins Ausland hat Rekordmaße erreicht. Erdogan kann von Glück sagen, dass die Opposition den Wählern keine überzeugenden Alternativen bieten kann.

    Inflation und sinkende Reallöhne hinterlassen tiefe Spuren

    Denn bei aller Bewunderung für ihren Präsidenten sehen viele Türken auch, was im Land falsch läuft. Inflation und sinkende Reallöhne bringen Millionen in Existenznot. „Es ist schwer geworden, hier zu leben“, sagt die 78-jährige Witwe Nazim im Camlica-Viertel nahe der Moschee. „Es gibt so viele Probleme, dabei wollen die Leute nichts als ein gutes Leben.“ Auch sie hält große Stücke auf Erdogan, doch unersetzlich ist der Präsident für sie nicht: „Wer die Probleme bewältigen kann, der soll regieren.“ 

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