Die Opferzahlen gehen steil in die Höhe. In der Türkei, aber auch in Syrien. Insgesamt ist von mindestens 20.000 Toten die Rede, rund 14.300 allein in der Türkei. Die Bilder von eingestürzten Mehrfamilienhäusern, vor Schmerz schreienden und weinenden Vätern, Müttern, Schwestern, Brüdern und Kindern, die um ihre Angehörigen trauern, gleichen sich. Doch es gibt Unterschiede: Während in der Türkei Zigtausende von Helfern aus aller Welt mit modernem Equipment nach Erdbeben-Opfern suchen und auch im vom Assad-Regime kontrollierten Teil Syriens Hilfstrupps aus dem Ausland eintreffen, sind die Menschen in Idlib – dem letzten Gebiet, das von Gegnern des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gehalten wird – auf sich allein gestellt.
„In Idlib fehlt noch immer jede Hilfe von außen. Menschen hören Hilferufe von ihren Angehörigen. Doch sie sitzen völlig hilflos vor den Trümmerbergen, weil es kein schweres Gerät gibt, um die tonnenschweren Betonplatten wegzuräumen“, schildert die Gründerin und Vorsitzende der Hilfsorganisation Zeltschule, Jacqueline Flory, im Gespräch mit unserer Redaktion die Lage in der an die Türkei angrenzenden Enklave im Nordwesten Syriens. Zeltschule betreibt 39 Schulen im Libanon und auf der syrischen Seite der Grenze, um geflüchteten Mädchen und Jungen eine Ausbildung in den Wirren des Krieges und damit eine Chance auf Zukunft zu geben.
Zur Unterstützung der Erdbeben-Opfer sind Lastwagen mit Hilfsgütern auf dem Weg nach Idlib
„Von den zehn Zeltschulen, die wir in der Region Idlib betreiben, sind neun stark beschädigt durch das Erdbeben. Oft sind die Zelte eingestürzt und die Wassertanks zerstört“, sagt Flory. Je nach Schätzung leben in Idlib drei bis über vier Millionen Menschen auf engem Raum unter teils katastrophalen humanitären Bedingungen – viele von ihnen in riesigen Flüchtlingslagern. Die große Mehrheit ist vor dem Krieg und dem Assad-Regime aus anderen Teilen des Landes dorthin geflohen.
Jetzt endlich gibt es Hoffnung für die Eingeschlossenen: Zur Unterstützung der Erdbeben-Opfer erreichten sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen Idlib. Sie nutzten den einzigen noch offenen Grenzübergang Bab al-Hawa zur Türkei, hieß es aus UN-Kreisen. Über mehrere Tage blockierten Straßenschäden und Trümmer dieses Nadelöhr in das weitgehend eingeschlossene Notstandsgebiet. Am Donnerstagnachmittag meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Zufahrt wieder passierbar ist. Der UN-Syrienvermittler Geir Pedersen forderte Damaskus dringend auf, Hilfskonvois für Erdbeben-Betroffene in außerhalb der Regierungskontrolle gelegene Gebieten nicht zu behindern. Schon bevor die Erde bebte, waren 90 Prozent der Bevölkerung in Idlib nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen.
„Die Geflüchteten leiden unter bitterer Kälte, gerade erst hat es wieder geschneit. Auch Trinkwasser und Nahrungsmittel sind knapp“, sagt Flory, die über Zeltschule-Mitarbeiter ständigen Kontakt nach Idlib hält. Die Versorgung mit Trinkwasser sei schon lange ein großes Problem. Viele würden verschmutztes Wasser trinken. „Die Folge sind Cholera-Ausbrüche, die insbesondere für Kinder eine tödliche Gefahr sind.“
Es ist ungleich unkomplizierter, die Menschen in der Türkei effektiv mit Helfern und Spenden zu unterstützen, als in den ebenso hart getroffenen Gebieten im Nordwesten Syriens. Zumal der Westen das von Russland politisch und militärisch unterstützte Assad-Regime, berüchtigt für sein gnadenloses Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung und Kriegsverbrechen, seit vielen Jahren mit Sanktionen belegt hat. Flory: „Natürlich muss man Syrerinnen und Syrern helfen. Ich hoffe aber, dass der Westen nicht den Fehler macht, sich an Assad anzunähern.“
Die UN verhandelt mit Damaskus über Hilfslieferungen
Die UN verhandelt derzeit mit Damaskus, um Hilfslieferungen nach Idlib auch über vom Regime kontrollierte Regionen zu ermöglichen. Kein leichtes Unterfangen, denn das Regime hat kein Interesse daran, dass die Bevölkerung in der letzten Rebellenhochburg – nach ihrer Lesart ohnehin größtenteils „Terroristen“ – unterstützt wird. Die Machthaber hoffen, Idlib als Hebel nutzen zu können, um die Sanktionen abzuschütteln.
„Assad muss gar nicht viel machen. So zynisch es klingt: Das Erdbeben ist für sein Regime der größtmögliche politische Gewinn. Jetzt hofft er auf die Aufhebung von Sanktionen und internationale Kontakte“, sagt Flory. Für die Verschütteten komme die Hilfe aus dem Westen zu spät. Es werde eher um Lebensmittel, die Räumung von Trümmern und den Wiederaufbau gehen. Auch die Gründerin der Hilfsorganisation hofft auf Spenden, um die Schulen von Zeltschule (www.zeltschule.org) möglichst schnell wieder instand setzen zu können. Jacqueline Flory appelliert generell an potenzielle Spender für die Erdbeben-Opfer in Syrien, "kleine Hilfsorganisationen zu unterstützen, die in Syrien vor Ort unabhängig vom Assad-Regime tätig sind".