Michel Barnier war nicht zu beneiden, als er am Dienstagnachmittag in die Arena stieg. Bereits im Vorfeld seiner ersten Regierungserklärung hatten mehrere Gewerkschaften zum Streik aufgerufen, um eine Rücknahme der Rentenreform der Vorgängerregierung und höhere Gehälter zu fordern.
Der neue Premier ist eingekeilt zwischen den Erwartungen sozialer Wohltaten und den Zwängen, die sich aus den, wie er sagte, „kolossalen Staatsschulden“ Frankreichs ergeben. Allein für die Zinsen sind jährlich mehr als 50 Milliarden Euro fällig, der zweitgrößte Haushaltsposten hinter der Bildung. Barnier musste das Kunststück gelingen, gleichzeitig Unabhängigkeit und Loyalität zu Präsident Emmanuel Macron zu demonstrieren, der ihn vor einem Monat ernannt hat.
In einer politisch schwierigen Lage nach den Parlamentswahlen galt der frühere Minister, EU-Kommissar und Brexit-Unterhändler für die EU als eine der wenigen Persönlichkeiten, die nicht sofort durch ein Misstrauensvotum gestürzt würden, obwohl ihm eine klare Mehrheit fehlt. Hinter Barnier stehen seine eigene politische Familie, die Republikaner, sowie – unter Vorbehalt – Macrons Partei und deren Verbündete. Der rechtsextreme Rassemblement National (RN) duldet ihn, ebenfalls unter Vorbehalt.
Neuer Premierminister in Frankreich: Eine Reichensteuer ist wieder im Gespräch
Dementsprechend gestaltete sich seine Regierungserklärung als Balanceakt. Einen echten Bruch mit der bisherigen Politik kündigte er nicht an. „Wir brauchen eine neue Methode“, erklärte er stattdessen. Er trete für „Zuhören, Respekt, Dialog“ ein und sei offen für die Einführung des Mehrheitswahlrechts und Anpassungen der umstrittenen Rentenreform. Komplett zurücknehmen, wie das linke Lager es fordert, will er sie nicht.
Das hohe Defizit von mehr als sechs Prozent 2024 plant Barnier im nächsten Jahr auf unter fünf und bis 2029 entsprechend den EU-Regeln auf drei Prozent zu drücken. Dafür schlug er eine strikte Verringerung der Ausgaben, aber auch eine „gezielte Sonder-Abgabe für die reichsten Franzosen“ vor – für Macrons Anhänger ein Tabu. Ins Detail ging der Premier hierbei nicht.
Es folgte eine umfassende Aufzählung an Versprechen, deren Finanzierung unklar blieb – von einer vorgezogenen Erhöhung des Mindestlohns um zwei Prozent über eine entschlossene Politik für bezahlbaren Wohnraum bis zum Kampf gegen Ärztemangel auf dem Land. Weder die 2013 eingeführte „Ehe für alle“ noch Macrons Gesetz aus dem Jahr 2021, das auch alleinstehenden Frauen und homosexuellen Paaren den Rückgriff auf künstliche Befruchtung ermöglicht, würden zurückgenommen, versprach der Regierungschef außerdem.
Kontrollen an den Grenzen sind für Michel Barnier kein Tabu
Diese Klarstellung erschien notwendig angesichts mehrerer neuer Minister mit wertkonservativem Profil, die sich damals gegen diese Gesetze ausgesprochen hatten, unter ihnen Innenminister Bruno Retailleau. Dieser hatte zuletzt mit der Aussage, der Rechtsstaat sei „weder unberührbar, noch heilig“, und scharfer Kritik an der Einwanderung im Allgemeinen parteiübergreifend für Empörung gesorgt.
Barnier bekräftigte die Notwendigkeit einer besseren Kontrolle der EU-Außengrenzen. Auch Kontrollen an den Binnengrenzen, nach deutschem Modell, sind für ihn kein Tabu. Zugleich betonte Barnier die Bedeutung einer menschenwürdigen Aufnahme von Flüchtlingen.
Wie schon seine beiden Vorgänger verzichtete der Regierungschef darauf, die Vertrauensfrage zu stellen, das erschien ihm offenbar zu riskant. Allerdings kündigte die links-grüne Allianz einen Misstrauensantrag an, über den zu Beginn der kommenden Woche abgestimmt wird.
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