Als sie auf die Bühne tritt, beginnt das Publikum zu klatschen, zu jubeln, zu pfeifen. Dabei macht an diesem Sommernachmittag in Eisenach kein Popstar Station, sondern eine Politikerin. Es kommt nicht häufig vor in diesen Tagen, dass Vertreter dieses Berufsstandes öffentlich gefeiert werden. Bei Sahra Wagenknecht ist das anders. Wo sie erscheint, teilt sich die Menge, zücken die Besucher ihre Handys für ein Selfie. Vielleicht ist die 55-Jährige so etwas wie ein politischer Popstar, ein Phänomen ist sie allemal. Wenige Tage vor der für ihre Partei so wichtigen Landtagswahl in Thüringen tourt sie über die Marktplätze. Sie spricht vom Krieg in der Ukraine und vom Versagen der Ampel. Selbstbewusst und siegessicher. Was sie sagt, trifft bei vielen Menschen einen Nerv. Das lässt sich an den Umfragewerten deutlich ablesen. Obwohl es erst wenige Monate alt ist, kommt das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Thüringen und Brandenburg auf fast 20 Prozent, in Sachsen auf 13 Prozent. Auch bundesweit kratzt die Partei an der Zehn-Prozent-Marke. Wie erklärt sich der rasante Aufstieg des BSW und was hat das mit Wagenknecht zu tun?
Wer in Eisenach durch das Nikolaitor in Richtung Innenstadt läuft, kommt am Thema Wahlkampf nicht vorbei. Fünf große Stellwände mit Wahlplakaten von BSW, SPD, Grüne, CDU und Linke stehen nebeneinander vor dem Lutherdenkmal. Auf dem Plakat des BSW prangen gleich zwei Gesichter: Katja Wolf, ehemalige Linke-Bürgermeisterin von Eisenach und thüringische Spitzenkandidatin, lächelt neben Sahra Wagenknecht, der Parteichefin. Auf dem Wahlzettel stehen wird nur Wolf, doch Wagenknecht zieht eben. Wolf gilt als Pragmatikerin, Wagenknecht geht es ums Grundsätzliche.
Kurz vor Beginn der Wahlkampfveranstaltung haben sich bereits rund 80 Personen auf dem Marktplatz versammelt, später werden es 300 sein. Einer von ihnen ist Johannes Nowak aus Gotha. Er ist als Wahlhelfer für das BSW im Einsatz, verteilt Handzettel und klärt Interessierte an einem Stand über das Wahlprogramm auf. „Ich bin links-konservativ“, erzählt der Arzt. Er habe nie eine Partei gefunden, mit der er sich identifizieren konnte. Es gebe eben keine, die sich „ideologiefrei um Probleme kümmert“, meint er. Seit Ende März ist er Mitglied im BSW, ihn beschäftigen unter anderem Fragen zum Gesundheitssystem, zu Bildung und Migration. Auch Sigrid Scherzberg ist vor Ort, um den Wahlkampf zu verfolgen, weil sie das Programm von Sahra Wagenknecht „absolut richtig“ findet. „Ganz besonders die Frage von Krieg und Frieden, vor allem die Waffenlieferungen“, sagt die Frau.
Überwiegend ältere Menschen sind auf den Eisenacher Marktplatz gekommen, etwas mehr Frauen als Männer. Sie sorgen sich um den Krieg, ihre Rente, die Schulen, das Gesundheitssystem. Themen, die das BSW in seinem bundesweiten Wahlprogramm anspricht. Darin ist von „wirtschaftlicher Vernunft“ mit einer „soliden Industrie“ und gut bezahlten, sicheren Arbeitsplätzen die Rede. „Soziale Gerechtigkeit“ ist ebenfalls ein Schlagwort des BSW, zu dem ein gerechtes Steuersystem und eine faire Leistungsgesellschaft mit „echter Chancengleichheit“ gehören sollen. Die Haltung zum Krieg in der Ukraine soll sogar über Koalitionen entscheiden. Nicht alles davon, was Wagenknecht anspricht, wird auf Landesebene entschieden. Doch vielen ihrer Anhänger geht es um Standpunkte.
Wagenknecht und BSW sind ein Machtfaktor bei Koalitionen nach der Landtagswahl
Für die anderen Parteien sind gerade die so heikel. Denn im stark zersplitterten Parteiensystem mit seinen Neugründungen geht es um Koalitionsmöglichkeiten. Wagenknecht ist ein Machtfaktor. Schon in den vergangenen Jahren kämpfte sich in Sachsen der CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer mit seiner Koalition aus SPD und Grünen durch die Regierungsjahre. In Thüringen konnte der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow nur mit einer Minderheitsregierung regieren. Nach den Wahlen könnte es noch komplizierter werden. Mit der ebenfalls starken AfD soll es keine Bündnisse geben, im Umgang mit dem BSW sind sich die etablierten Parteien nicht so sicher. Kaum ein Rechenbeispiel für Thüringen kommt ohne die Wagenknecht-Partei aus. Öffentlich lassen die Wahlkämpfer zwar kein gutes Haar aneinander, hinter den Kulissen wird aber durchaus abgewogen. Wie weit kann man die eigene Überzeugung verbiegen? Was verzeihen die eigenen Wählerinnen und Wähler? Dass sich das BSW im Parteienspektrum so schwer verorten lässt, könnte helfen.
„Sie ist wirtschaftspolitisch links und gesellschaftspolitisch rechts, Migration lehnt sie strikt ab“, erklärt Hans Vorländer. Der 69-Jährige ist Professor an der Technischen Universität Dresden, Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) und des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung. Der schnelle Erfolg des BSW liege aber vor allem an der Person Sahra Wagenknecht, erklärt er: „Sie ist eine Ostdeutsche, hat eine ostdeutsche Vergangenheit und national orientierte Positionen.“
Die Politikerin wurde in Jena als Tochter eines Iraners und einer Ostdeutschen geboren, sie studierte Philosophie und Deutsche Literatur. Von 1991 bis 1995 war sie Mitglied im Parteivorstand der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Sie äußert sich in dieser Zeit immer wieder kritisch zum Mauerfall, wünscht sich eine reformierte DDR und lehnte es ab, sich von stalinistischen Ideen – und ihrer eigenen Überzeugung – zu distanzieren. Damit macht sie sich viele Feinde, wird aber auch bewundert. Verbohrt nennen sie die einen, konsequent die anderen. Erst vor wenigen Wochen warnten frühere DDR-Bürgerrechtler vor dem BSW und nannten die Parteigründerin eine Lügnerin.
Politisch hat Wagenknecht eine lange Reise hinter sich. Nachdem sie 1998 als Direktkandidatin der PDS bei der Bundestagswahl in Dortmund antritt und kein Mandat erhält, sitzt sie von 2004 bis 2009 für die PDS im Europaparlament, von 2009 bis 2023 ist sie Mitglied im Deutschen Bundestag für die Partei Die Linke. Im Dezember vergangenen Jahres verlässt Wagenknecht die Linke und gründet nur wenige Wochen später das Bündnis Sahra Wagenknecht.
Beobachter beschreiben Wagenknecht als unnahbar, als eine, die sich auch von Kritik nicht aus der Ruhe bringen lässt. Ihre starken Positionen und Meinungen bringen ihr immer wieder die Rolle der „Außenseiterin“ ein. Schon in ihrer Kindheit wird sie mit ihrem „Anderssein“ konfrontiert, der persische Vater verlässt die Familie, da ist Sahra gerade einmal drei Jahre alt. Wagenknecht selbst sagt über diese Zeit: „Es ist sicher so, dass ich durch meine Kindheit gelernt habe, damit umzugehen, dass ich auch mal alleine stehe oder eben was mir wirklich wichtig ist, dass ich das vertrete, was ich für richtig halte. Egal, was die Gruppe um mich herum denkt.“
BSW-Parteiprogramm: Annäherung an Russland und weg von den USA
Gerade das Gegen-den-Strich-bürsten wird zu ihrem Markenzeichen. Inzwischen bediene Wagenknecht besonders die Anti-Nato- und Anti-Westen-Ressentiments aus Ostdeutschland, sagt der Politikwissenschaftler Vorländer. Die Militärallianz mit den USA will sie dem Wahlprogramm zufolge einschränken und strebt stattdessen ein Bündnis an, das längerfristig auch Russland einschließen soll. Wagenknecht greife die Positionen auf, die in Ostdeutschland stark vertreten seien, erklärt der Experte. Dazu zählt etwa die Kritik an Waffenlieferungen in die Ukraine oder an der Stationierung von US-Waffen in Deutschland.
„Wir wollen eine Politik, wo Sie sich wiederfinden“, ruft Wagenknecht in Eisenach von der Bühne und erntet Applaus. Dafür hätten sie und ihre Partei auch klare Konzepte, verkündet die 55-Jährige. Sie fordere ein Rentensystem nach Vorbild Österreichs, zudem müsse die „natürliche Intelligenz der Kinder“ verstärkt werden, anstatt weiter an Künstlicher Intelligenz zu forschen. Sie halte nichts von einer „verlogenen Klimapolitik“ und rechnet vor, dass mit den Sanktionen gegen Russland auch das Schienennetz hätte finanziert werden können.
„Die ist schon toll, 'ne?“, sagt ein älterer Herr zu seiner Frau etwas weiter hinten in der Menge. Auch Beate Roque Lopez und ihr Mann Osvaldo sind begeistert. „Für mich spricht sie die Wahrheit“, sagt Roque Lopez. Sie sorge sich um Bildung, Kindergärten und Schulen. „Und auch der letzte Punkt mit dem Weltfrieden: Ich verstehe nicht, warum die Politik was anderes macht als die Wähler wollen“, wundert sich die Frau.
Dresdner Experte nicht überrascht von Erfolg des BSW und Sahra Wagenknecht
Und doch gibt es auch andere Stimmen. Dennis Petschner, Geschäftsführer eines Sozialverbands in Eisenach, ist so eine. „Es war interessant, wichtige Themen wurden angerissen. Aber es war auch ein bisschen polarisierend“, sagt er. Ihm haben Stellungnahmen zur Sozialpolitik, darunter besonders die Bereiche Kita und Pflege, gefehlt. „Die Generation 20 plus wurde nicht so gut abgeholt“, sagt Petschner. Sein Eindruck sei jedoch, dass das Bündnis gut ankomme in Eisenach: „Sie zieht mehr als eine alte Partei.“ Kritischer sehen es eine Studentin und eine ältere Frau, die beide ihre Namen nicht in der Zeitung wollen. „Das war demagogisch und populistisch“, sagt die junge Frau. „Ich hätte mir mehr Inhalte gewünscht“, fügt ihre Begleiterin hinzu. Es sei ein Grundgefühl zu spüren, dass vieles nicht stimme, „und das greift sie auf.“
Der Erfolg des BSW überrasche ihn nicht, sagt der Dresdner Professor Vorländer. Es gebe eine gewisse „Sehnsucht nach Führung“ im Osten. Auch die potenzielle Wählerschaft könne man „deutlich identifizieren“: Personen aus ländlichen und kleinstädtischen Regionen, die ein Bedürfnis nach Sicherheit und Angst vor Migration haben. Es gebe „klare Korrelation“, sagt Vorländer. Tendenziell handle es sich bei BSW-Interessierten auch um Personen aus unteren Einkommensschichten, „aber nicht nur“.
Ob aus den Umfragen am Sonntag in Sachsen und Thüringen auch Wahlergebnisse werden, lässt sich dennoch nur schwer prognostizieren. „Neue Anbieter kann man schlecht einschätzen, weil keine Vorergebnisse da sind“, sagt Vorländer. Doch im Fall des BSW rechnet der Dresdner Wissenschaftler sogar eher damit, dass das BSW aktuell unterschätzt wird. Und dies vermutlich zulasten von Linke und SPD.
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