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Religion: Warum Christen trotz aller Skandale Kirchenmitglieder bleiben

Religion

Warum Christen trotz aller Skandale Kirchenmitglieder bleiben

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    Frank Deuring: Der katholische Pfarrer leitet die Pfarreiengemeinschaft Füssen.
    Frank Deuring: Der katholische Pfarrer leitet die Pfarreiengemeinschaft Füssen. Foto: Benedikt Siegert

    Annemarie Zill versteht die Welt nicht mehr. Das Kesseltreiben gegen die katholische Kirche, als das sie Medienberichte empfindet, nehme kein Ende. Nur der Schmutz in und an der Kirche werde veröffentlicht, sagt sie. So etwas ist zurzeit oft zu hören. Vom früheren Benediktiner-Abtprimas Notker Wolf, der in der Erzabtei St. Ottilien im oberbayerischen Landkreis Landsberg am Lech lebt, und der in einem Interview sagte: „Keiner redet mehr, was in der Kirche alles Gutes geschieht. Das ist Verblendung.“ Oder eben von

    Das Kesseltreiben gegen die katholische Kirche nehme kein Ende, findet die Pfarrhaushälterin

    Zill ist aufgebracht – und ehrlich besorgt. Sie wünscht sich Zeiten zurück, in denen der Glaube einfach dazugehörte. In denen man sich nicht dafür rechtfertigen musste, katholisch zu sein. In denen nicht jeden Tag ein Missbrauchsfall in den Schlagzeilen war und das viele Gute, das etwa Priester ja zweifelsohne tun, überschattete.

    Doch dieses Zurück wird es nicht mehr geben, stattdessen ein Vorwärts in eine ungewisse Zukunft.

    Und so kehren die einen der Kirche den Rücken. Massenhaft, und nicht nur im Erzbistum Köln, in dem der umstrittene Kardinal Rainer Maria Woelki am Aschermittwoch nach einer „geistlichen Auszeit“ zum Dienst antrat. Die anderen hoffen auf Reformen, wie sie auf dem Synodalen Weg – dem Gesprächsprozess zwischen den deutschen Bischöfen und Laien – zu Papier und Abstimmung gebracht werden. Wieder andere machen dagegen mobil. Es sind Zeiten der Ab-, Um- und Aufbrüche. Die einen haben das Gefühl, es bewegt sich endlich etwas – und engagieren sich, jetzt erst recht. Die anderen fürchten um die Existenz „ihrer“ Kirche. Viel Schatten, viel Licht.

    Notker Wolf: Der frühere Benediktiner-Abtprimas lebt in der Erzabtei St. Ottilien im oberbayerischen Landkreis Landsberg am Lech.
    Notker Wolf: Der frühere Benediktiner-Abtprimas lebt in der Erzabtei St. Ottilien im oberbayerischen Landkreis Landsberg am Lech. Foto: Karlheinz Schindler, dpa (Archivbild)

    Annemarie Zill erzählt, dass sie und ihr Pfarrer jeden Tag gemeinsam am Morgen die Messe feiern. Beim Mittagessen reden sie über das, was sie bewegt. Kürzlich war Gebhard Fürst Gesprächsthema. Der Bischof von Rottenburg-Stuttgart hatte sich für die Weihe von Frauen zu Diakoninnen ausgesprochen, und dafür, dass queere Menschen durch das kirchliche Arbeitsrecht nicht weiter diskriminiert werden. Vor allem hatte er den emeritierten Papst Benedikt XVI. kritisiert: „Er hat sich sehr schweren Schaden zugefügt, unserer Kirche insgesamt auch.“

    „Muss dieser alte Mann denn so belastet werden?“, fragt Annemarie Zill. Sie erinnert sich daran, dass sie von Kindesbeinen an die Kirche als eine große Gemeinschaft und Quelle der Kraft erlebte. Gerade während des Krieges und danach sei sie die einzige Rettung gewesen.

    Der Sturm der Skandale zerrt an Menschen, die ihr Leben der Kirche gewidmet und in diesem Leben Trost und Erfüllung fanden

    Und heute? Gerate vieles in Vergessenheit oder gelte nichts mehr. Zill zählt auf: Wer beichte schon noch? Wer besuche noch den Gottesdienst? Wer hole noch einen Priester, wenn es ans Lebensende gehe? Und dann werde der emeritierte Papst als Lügner dargestellt! Man dürfe nicht über der ganzen Kirche den Stab brechen, findet sie. „Es ist ein Sturm, und wir können gar nichts anderes tun als beten.“ Es gehe um alles oder nichts.

    In der Tat ist besonders aus dem Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen, der jahrzehntelangen Vertuschung und Verharmlosung eine Überlebensfrage für sie geworden. So sehen es Theologen, Journalistinnen, Kirchenvertreter selbst. Seit Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens Mitte Januar, das Joseph Ratzinger – der spätere Papst Benedikt – Fehlverhalten vorwirft, tost der Sturm ein paar Windstärken kräftiger.

    Er zerrt an Menschen wie dem Ordensmann Notker Wolf oder Annemarie Zill, die ihr Leben der Kirche gewidmet und in diesem Leben Trost und Erfüllung fanden. Und die es – trotz der auch für sie schlimmen Missbrauchsfälle – als ungerecht empfinden, wie sich die Wahrnehmung von Kirche verengt zu haben scheint auf deren Skandale.

    Zahlreiche Priester berichteten von Frustration und Unverständnis, ist zu hören

    Wer sich dieser Tage umhört, auch in der evangelischen Kirche, spürt, wie heftig der Sturm ist. Da sagen Kinder, dass sie keine Firmung wünschen. Da schweigen Gottesdienstbesucher an der Stelle des Glaubensbekenntnisses, an der es heißt, dass man an „die heilige katholische Kirche“ glaube. Und da sind Pfarrer ratlos, hilflos, machtlos.

    Wie sehr, das weiß man im Recollectio-Haus der Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Dorthin, in die Nähe von Würzburg, kommen Priester, Diakone oder Ordensangehörige, die eine Auszeit benötigen oder unter der Kirche leiden. Ihre Zahl sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, sagte die Leiterin der Einrichtung Ende Januar. Zahlreiche Priester berichteten von Frustration und Unverständnis, wie die Kirche mit sexuellem Missbrauch umgehe.

    Wunibald Müller: katholischer Theologe und psychologischer Psychotherapeut.
    Wunibald Müller: katholischer Theologe und psychologischer Psychotherapeut. Foto: Patty Varasano

    Einer ihrer Vorgänger, der Theologe und psychologische Psychotherapeut Wunibald Müller, nennt es „Kernschmelze“: Früher hätten eher Katholikinnen und Katholiken am Rande der Kirche ihren Austritt erklärt. Heute überlegten selbst Engagierte, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, Mitglied zu bleiben. Zunehmend stellten sich Priester oder Ordensleute die Frage: Wo bin ich denn da gelandet? Für sie sei das eine existenzielle Frage, sagt Müller, der in Würzburg wohnt, am Telefon. Der Kontrast zwischen seiner ruhigen Stimme und seinen Worten ist denkbar groß.

    Theologe Wunibald Müller sagt: Er kenne Pfarrer, die sich nicht mehr für diesen Beruf entscheiden würden, die haderten

    Bis Mitte 2016 leitete er das Recollectio-Haus, ein Vierteljahrhundert lang. Er habe gesehen, was es Schönes und Wertvolles in der katholischen Kirche gebe, erzählt er. Genauso weiß er um ihre Schattenseiten. Er kenne Pfarrer, die sich nicht mehr für diesen Beruf entscheiden würden, die haderten. Denen die Skandale und Kirchenaustritte zusetzten. Sie müssten einen Weg finden, sich und ihrem einstigen Entschluss treu zu bleiben, die Frohe Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes zu vermitteln. Ein Weg könne darin bestehen, sich zu sagen: „Ich bin da und versuche, mich einzubringen für die Leute, die mit mir da sind.“ Warum er noch in der katholischen Kirche ist?

    Wunibald Müller antwortet: „Ich sehe viel Gutes“, zugleich empfinde er eine deutliche Distanz – zu dem, was häufig mit dem Wort „Amtskirche“ ausgedrückt wird. Verkörpert etwa durch den Papst.

    Es kommt nicht selten vor, dass aufgrund einer seiner Entscheidungen oder eines Skandals in der katholischen Kirche evangelische Christen austreten. Inge Schiele aus Holheim hat diese Erfahrung in den vergangenen 30 Jahren mehrfach gemacht. Die 62-Jährige ist Standesbeamtin, Standesamt Ries in Nördlingen, und engagiert sich in der evangelisch-lutherischen Kirche.

    „Wir können nicht so tun, als ob in evangelischen Einrichtungen in der Vergangenheit nicht auch Unrecht geschehen ist", predigt Protestantin Inge Schiele

    Als sogenannte Prädikantin predigt sie auch, wie vor kurzem. „Wir werden immer wieder durcheinandergewirbelt“, sagte sie und erwähnte „Enthüllungen des Missbrauchs“ in der katholischen Kirche, die auch die evangelische treffen würden – weil viele gar nicht mehr zwischen evangelisch und katholisch unterscheiden; zum anderen „können wir nicht so tun, als ob in evangelischen Einrichtungen in der Vergangenheit nicht auch Unrecht geschehen ist“. Dem müsse man sich stellen, und das sei anstrengend und unbequem.

    Inge Schiele: evangelische Christin und Standesbeamtin.
    Inge Schiele: evangelische Christin und Standesbeamtin. Foto: Herzig/Schiele

    Schieles Mann ist katholisch, der Zustand beider Kirchen beschäftigt sie. Und doch würden sie nicht austreten. Das käme einer Amputation gleich, sagt Schiele, ohne lange nachzudenken. „Ich liebe meine Kirche. Wenn ich rausgehe, kann ich nichts mehr ändern.“ An der evangelischen Kirche stört sie vor allem deren „umständliche Verwaltung“. Sie sagt: Wenn Kirche zu selbstgewiss sei, habe sie sich verloren.

    Bevor sich Kirche allerdings verliert, verliert sie Mitglieder. Vor knapp drei Jahren veröffentlichte die Albert-Ludwig-Universität Freiburg eine Projektion, der zufolge die Zahl katholischer und evangelischer Kirchenmitglieder in Deutschland von 44,8 Millionen im Jahr 2017 auf 22,7 Millionen im Jahr 2060 sinken werde. Seit 2017 hat sich die Entwicklung dramatisch verschärft, die Zahl der Austritte erreicht einen Negativrekordwert nach dem anderen.

    „Aufgabe der Kirche wäre es, stärker auf die Wunder Gottes hinzuweisen", sagt sie

    Standesbeamtin Inge Schiele bemerkt das in ihrem Zuständigkeitsbereich. „Es ist so traurig“, sagt sie. Menschen erklärten zwar ihren Kirchenaustritt, wollten aber weiter glauben. Sie spricht vom Guten, das es in der Kirche gebe, täglich, vielfach, überall. Bloß: Was genau ist das? Im Gegensatz zu anderen, deren erste Gedanken dabei um Hilfseinrichtungen, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser kreisen, denkt

    Glauben ist ein Schatz - davon sind die engagierten katholischen Laien der Pfarreiengemeinschaft Füssen zutiefst überzeugt.
    Glauben ist ein Schatz - davon sind die engagierten katholischen Laien der Pfarreiengemeinschaft Füssen zutiefst überzeugt. Foto: Benedikt Siegert

    Mit ihrem Weg in die Zukunft befasst sich die katholische Pfarreiengemeinschaft Füssen intensiv. Bei einer Videokonferenz blickt man in neun lächelnde Gesichter von Gläubigen. Sie bereiten den anstehenden Glaubenskurs vor. An insgesamt sechs Abenden wollen sie „Schätze unseres Glaubens wieder in den Blick nehmen, damit sie unser Leben bereichern und unsere Freude am Glauben wächst“.

    In Füssen befassen sich Pfarrer und Ehrenamtliche intensiv mit einem Weg ihrer Kirche in die Zukunft

    So ist es auf der Internetseite der Pfarreiengemeinschaft beschrieben, die Freude am Glauben ist Pfarrer Frank Deuring und den anderen aber auch anzuhören. „Wir sind nicht nur eine Organisation, eine Institution, sondern eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft“, sagt er. „Das ist etwas Starkes.“ Die gegenwärtige Situation schmerze sie alle und erfülle sie mit Scham – dennoch sei Kirche anders. Sie wollten Kirche sein und Menschen Gott näher bringen.

    In Füssen gelingt das durchaus, und das lässt sich unter anderem auf das zurückführen, was sich hinter dem sperrigen Begriff „Pastoralentwicklung“ verbirgt. Seit 2017 hat die Pfarreiengemeinschaft einen Prozess durchlaufen, der auf dieser Erkenntnis beruht: „Wir verstehen uns nicht als eine Gruppe, die sagt: Alles ist gut und wir lassen alles, wie es ist – obwohl wir merken, dass wir weniger werden. Wir möchten wissen: Wie nehmen uns die Menschen wahr? Was erwarten sie von uns als Kirche?“, erklärt Pfarrer Deuring.

    Also wurden – begleitet vom Bistum Augsburg – sämtliche Gemeindemitglieder gebeten, an einer Umfrage teilzunehmen. Es schlossen sich Workshops an, Arbeitsgruppen wurden gebildet. Im Januar wurde der Prozess vorerst abgeschlossen. Deuring und seine Gemeinde erfuhren, dass sich ihre Pfarreiengemeinschaft „im Bereich Öffnung an kirchenferne Christen“ schwer tue, dass sie sich auf ihre Kerngemeinde konzentriere und nicht zielorientiert arbeite. Das kann entmutigen – die Füssener Katholikinnen und Katholiken entwickelten „Stefan“.

    Die katholische Stadtpfarrkirche St. Mang in Füssen. Der Eindruck täuscht: Die Zahl der Besucher bestimmter Gottesdienste ist zuletzt gewachsen.
    Die katholische Stadtpfarrkirche St. Mang in Füssen. Der Eindruck täuscht: Die Zahl der Besucher bestimmter Gottesdienste ist zuletzt gewachsen. Foto: Benedikt Siegert

    Stefan ist knapp 40, verheiratet, Vater und mit seinem Ort verbunden. Ein typischer Vertreter des adaptiv-pragmatischen Milieus innerhalb der katholischen Kirche, wie es in der Wissenschaft heißt. Vertreter dieser Gruppe sind aufgeschlossen und erfolgsorientiert – und ständig auf der Suche nach Etablierung sowie nach Halt und Orientierung.

    Es gibt jetzt neue Angebote - und der Abendgottesdienst ist beliebt

    An Stefan, diesem Modell-Katholiken, hat die Pfarreiengemeinschaft Füssen ihre Öffentlichkeitsarbeit und Angebote ausgerichtet. Es gibt jetzt einen Newsletter, Pfarrbrief und Erstkommunionvorbereitung wurden verändert, spezielle Veranstaltungen für Familien ins Leben gerufen. Sonntags um 8 Uhr gibt es jetzt einen „Frühaufsteher-Gottesdienst“ und um 18 Uhr einen „Neuen Abendgottesdienst“. Einen für die Stefans, mit sogenanntem „Neuen Geistlichen Liedgut“, teils mit Power-Point-Präsentationen. Besuchten früher um die 20 Menschen den Abendgottesdienst, sind es mittlerweile bis zu hundert.

    Ab-, Um- und Aufbrüche. Zweifel und Gottvertrauen. Skandale und Gutes. Schatten und Licht. Es kommt einiges zusammen. Auch im Gespräch mit Annemarie Zill, der Pfarrhaushälterin. An dessen Ende sagt die 86-Jährige, dass die katholische Kirche in Deutschland künftig wohl eine kleine Kirche sein werde. „Aber“, ergänzt sie rasch, „Gott wird immer da sein und sie nicht verlassen.“ Sie verspricht, einen in ihr Abendgebet aufzunehmen.

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