Viktor Orbán wählte den Zeitpunkt seines Auftritts nicht zufällig und sorgte wie geplant für Nervosität in Brüssel. Nur wenige Stunden bevor Ungarn am Montag den sechsmonatigen Ratsvorsitz der EU übernahm, verkündete der ungarische Ministerpräsident die Gründung einer neuen Rechtsaußen-Fraktion im EU-Parlament. Gemeinsam mit dem Chef der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Herbert Kickl, und dem tschechischen Oppositionsführer Andrej Babis präsentierte er am Sonntag in Wien ein „patriotisches Manifest“, das als Basis für eine neue Allianz im EU-Parlament dienen soll.
Orbáns Gruppe könnte stärkste Rechtsfraktion werden
Orbáns nationalkonservative Fidesz gehört derzeit keinem der sieben politischen Bündnisse an, in denen die meisten Parteien der 27 Mitgliedstaaten vertreten sind. Deshalb schuf er jetzt die „Patrioten für Europa“. Diese Gruppe könnte laut Orbán in den kommenden Tagen zur stärksten rechten Vereinigung Europas werden. Der Ungar will offenbar seinen Einfluss ausbauen und braucht dafür Allianzen auf allen Ebenen. Im EU-Parlament soll die neue Fraktion seine Macht stärken. Im Rat, dem Gremium der 27 Mitgliedstaaten, führt sein Land nun den Vorsitz – ausgerechnet. Die Sorge, dass der Putin-Freund und EU-Skeptiker Orbán keineswegs den „ehrlichen Makler“ mimen wird, ist groß, besonders bei der Ukraine-Unterstützung und Rechtsstaatlichkeit. Eine EU-Ratspräsidentschaft soll zwischen den Mitgliedstaaten vermitteln und Kompromisse schmieden – Fähigkeiten, die der Dauerrebell im Klub der 27 bisher nicht gezeigt hat. Einen Hinweis auf die kommenden Monate gab bereits das Motto der Ratspräsidentschaft: „Make Europe great again“, also „Macht Europa wieder großartig“. Ähnlichkeiten zur Kampagne des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump werden von den ungarischen Vertretern schmunzelnd abgestritten, sind aber offensichtlich beabsichtigt. Unter Ungarns Ratsvorsitz soll es insbesondere bei der Migrationspolitik vorangehen. Im zweiten Halbjahr müssen die Mitgliedstaaten die mühsam ausgehandelte Reform des Asyl- und Migrationspakts umsetzen.
Erstmals steht ein Autokrat an der EU-Spitze
Mit dem Dauerstörer Orbán steht erstmals in der Geschichte der Union ein rechtspopulistischer Autokrat an der Spitze eines der wichtigsten EU-Organe. Orbán rief gewohnt unbescheiden „eine neue Ära“ aus, als er die „Patrioten für Europa“-Gruppe vorstellte. Doch die Allianz braucht noch Mitstreiter aus mindestens vier anderen Ländern, um die Voraussetzungen zu erfüllen. Obwohl Orbán bei seinem Auftritt die Muskeln spielen ließ, sind Österreichs und Tschechiens Rechte keine politischen Schwergewichte. Weder Frankreichs Marine Le Pen noch Italiens Giorgia Meloni konnte oder wollte Orbán offenbar für sich gewinnen. Experten sind nicht überrascht: Nationalistische Parteien arbeiten selten gut mit Nationalisten aus anderen Ländern zusammen. Ihr Ideal verträgt sich traditionell weniger mit der Idee eines vereinten Europas. So blieb die Frage unbeantwortet, ob die italienische Lega oder Geert Wilders Freiheitspartei aus den Niederlanden dem Bündnis beitreten wollen.
Wechselt die AfD ins Orbán-Lager?
Orbáns Bündnis will die „Brüsseler Elite“ herausfordern und setzt dabei auf Souveränität, Ordnung und eine Anti-Einwanderungspolitik. Dabei fehlen bislang sowohl die deutsche AfD als auch die polnische PiS.. Wie lange noch? Für die abgewählte Regierungspartei aus Polen könnte vor allem Orbáns russlandfreundliche Haltung ein Problem darstellen. Deshalb hatte sich zuvor Meloni sich gegen die Aufnahme der ungarischen Fidesz in die Fraktion der Konservativen und Reformer (EKR), zu der ihre Partei „Fratelli d’Italia" gehört, ausgesprochen.
Die AfD erklärte, dass es noch keine Entscheidung über ihre künftige Fraktionszugehörigkeit gebe. Das Zögern dürfte an eingeschränkten Optionen liegen. Bislang hatten sich rechtspopulistische Parteien im EU-Parlament in den beiden Fraktionen EKR und ID (Identität und Demokratie), zu der Marine Le Pens „Rassemblement national“ zählt, versammelt. In der ID saß auch die AfD, bevor ihre Abgeordneten wegen der umstrittenen Äußerungen zur Waffen-SS ihres Spitzenkandidaten Maximilian Krah aus der Fraktion ausgeschlossen wurden. In den Programmen mögen die Unterschiede nicht groß sein, bei der Wortwahl und beim Auftreten gilt die AfD vielen Rechtspopulisten in Europa jedoch als zu extrem. Während sich die AfD immer weiter radikalisierte, treten die meisten Rechtsaußen- und nationalkonservativen Parteien in Europa mittlerweile moderater auf, um Regierungsverantwortung zu bekommen und aktiv europäische Politik mitzugestalten. Le Pen und Meloni versuchen seit Jahren, ihre Parolen weichzuspülen. Mit Erfolg, wie die jüngsten Wahlsiege zeigen.