Dieser Artikel stammt aus unserem Archiv und wurde am 23. Januar 2024 erstmals veröffentlicht.
Wer verstehen will, wie Michael Kretschmer Politik macht, der muss warten können. Es ist kurz vor 22 Uhr an einem Wintertag im Osterzgebirge. Das neue Jahr ist keine zwei Wochen alt. Vor der Bühne der Stadthalle von Neustadt wird Sachsens Ministerpräsident von zwei Bürgern in Beschlag genommen, die nicht daran glauben, dass der Klimawandel vom Menschen befeuert wird. Die Techniker schalten gerade die Beleuchtung ab, die übrigen Gäste des Bürgerdialogs sind längst nach Hause gegangen oder greifen draußen am Buffet im Foyer zu belegten Broten mit Käse, Salami oder Schmalz. In Sachsen heißen Schmalzbrote Fettbemme.
„Da haben wir einen Disput. Das Schöne an der Meinungsfreiheit ist, dass sie trotzdem Ihre Meinung haben dürfen“, sagt Kretschmer. Zuvor hat er dem Mann und der aufgebrachten Frau erklärt, dass eine überwältigende Zahl der Klimaforscher der Ansicht sei, dass die Aufheizung der Erde Menschenwerk ist. Er bleibt höflich, aber bestimmt. Neben ihm wird sein Bier schal, das ihm jemand gebracht hat. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ränder ab, der 48-Jährige trägt das Gesicht des Vielarbeiters. Schließlich rauschen die beiden ab. Die wütenden Bauern haben inzwischen das Hupkonzert ihrer Traktoren beendet, die sie vor der Halle geparkt haben. Die Ausläufer der Bauernproteste reichen bis nach Neustadt. Aber ab 10 Uhr abends gilt schließlich Nachtruhe. Ordnung muss sein, auch wenn es brodelt im Volk.
Drinnen stellt sich der Ministerpräsident seit drei Stunden den Fragen der Leute. Zunächst zwei Stunden in der offiziellen Fragerunde, die dann am Stehtisch fortgesetzt wird. Es geht um das volle Programm der Aufregerthemen: Energiewende, magere Renten, den bürokratischen Wahnsinn, unbezahlbare Pflegekosten, fehlende Kindergartenplätze und Lehrkräftemangel. Und natürlich Migration. Der 15-jährige Nick fragt, warum er jeden Tag nur vier Stunden Schule hat. Der Ministerpräsident antwortet faktentreu, dass Sachsen die Zahl der Lehramtsstudenten mehr als verdreifacht hat und Lehrer wieder verbeamtet werden. Doch das Problem sei, dass die Absolventen in die Großstädte strebten und lieber reduziert arbeiteten. „Die Kombination aus hohem Gehalt und sicherem Job ist eine Funktion von weniger arbeiten. Das ist irre“, leitet der Regierungschef her. Mit der linken Hand umklammert er das Mikrofon, in der rechten hält er einen Kuli in Sachsengrün, mit dem er gestikuliert. Um den Engpass zu lösen, fordert er die Änderung des Rechtsanspruches auf Teilzeit. Das müsste der Bundestag beschließen, wofür es aber gerade keine Mehrheit gibt. Nick jedenfalls ist dem Ministerpräsidenten nicht böse, dass der konkret wenig für ihn tun kann. Im Anschluss stellt er sich brav für ein Foto an und bekommt es auch.
Kretschmers Probleme sind Probleme, mit denen sich die Politikerinnen und Politiker landauf, landab plagen. Dicke Bretter sind das. Rasche Lösungen gibt es nicht, weil Personal fehlt und Milliarden oder der Umbau des Energiesystems Jahrzehnte dauert. Doch in Sachsen ist es besonders wichtig, dass der Regierungschef Antworten gibt, die überzeugen. Anfang Juni werden hier Bürgermeister und Landräte gewählt. Am 1. September entscheiden die Wählerinnen und Wähler über einen neuen Landtag. In den Umfragen führt die AfD, bekäme derzeit 35 Prozent der Stimmen. Kretschmers CDU liegt mit 30 Prozent dahinter und danach kommt lange nichts. Sachsen droht von einer blauen Welle überspült zu werden. Kretschmer soll der Wellenbrecher sein.
Das Aufstehen der Anständigen wäre in Sachsen gescheitert
Denkbar ist sogar die Konstellation, dass nur CDU und AfD in den Landtag einziehen, weil die anderen Parteien in den Umfragen gerade ganz nah an der Fünf-Prozent-Hürde sind. Dann könnte die Alternative für Deutschland ihren ersten Ministerpräsidenten stellen, wenn sie ihren Vorsprung aus den Umfragen hält. Aber selbst wenn Kretschmer mit anderen Parteien eine Koalition schmieden kann und die Blauen den ersten Platz erringen, wäre das ein Fanal. Dann hätten die Demonstrationen mit Hunderttausenden in ganz Deutschland, die am Wochenende die ganze Republik bewegten, zumindest in Sachsen ihre Wirkung verfehlt. Das Aufstehen der Anständigen wäre gescheitert.
In seiner Heimatstadt Görlitz stellt sich der Ministerpräsident an die Spitze des Protests gegen die AfD. „Hier wird niemand remigriert, weder unser Oberbürgermeister noch unser Lieblingsitaliener, noch Nobelpreisträger, noch Technologie und Professoren“, ruft er den Leuten von einer kleinen Bühne herab zu. 2000 Görlitzer sind gekommen, um sich gegen Rechtsextremismus zu erheben. Kretschmer kämpft mit rauer Stimme. Remigration ist der Begriff der Stunde, und im äußersten Osten Deutschlands hat er eine besondere Relevanz. Hier ist die AfD schon lange eine Macht, obwohl die Innenstadt so schön saniert ist wie kaum eine zweite hierzulande. Hier schickte sich die Partei schon vor fünf Jahren an, den ersten Oberbürgermeisterposten zu erobern. Eine Absprache der anderen Parteien verhinderte das seinerzeit. Oberbürgermeister ist seit 2019 der aus Bukarest stammende Orchestertrompeter Octavian Ursu, der Mitglied in Kretschmers CDU ist. Doch die AfD hat dem Ministerpräsidenten vor der Haustür eine schmerzhafte Niederlage zugefügt. Der heutige Vorsitzende Tino Chrupalla jagte ihm 2017 das Direktmandat für den Bundestag ab.
Sachsen war seit der Wende eine Bastion der CDU. „König“ Kurt Biedenkopf, der aus dem Westen kam, regierte unangefochten. Seit zehn Jahren etwa liegt das Bollwerk unter Beschuss der Angreifer von Rechtsaußen. Ende 2014 gingen in Dresden das erste Mal selbst ernannte patriotische Europäer spazieren, um gegen die Islamisierung des Abendlandes zu protestieren. Pegida war der Vorbote eines massiven Vertrauensverlustes in das politische System, des Verdrusses und der Verachtung für Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien. Der seinerzeit präsidial regierende Ministerpräsident Stanislaw Tillich hoffte, dass sich der Protest totlaufen würde. Doch das Gegenteil geschah, das rechte Lager wurde in der Flüchtlingskrise immer stärker.
Als Kretschmer 2017 übernahm, änderte er den Politikstil radikal. Statt auf präsidial setzt Kretschmer auf persönliche Präsenz in der Provinz. Königswartha, Zwochau und Wolkenstein statt Leipzig und Dresden. Selbst Sachsen haben Mühe, einige der Örtchen auf der Karte zu finden. Die Ochsentour als politisches Programm. Heute gehen auch andere Ministerpräsidenten auf Zuhörtour, wie es Kretschmer als Erster tat. Jeder kann kommen und seine Fragen stellen, kann motzen und meckern und bekommt dennoch eine Antwort. Wenn der Wahlkampf in die heiße Phase eingeht, wird Kretschmer täglich bei Bratwurst und Bier in mehreren Orten sprechen. Auf Bratwurst und Bier können sich die Sachsen noch verständigen.
Manchmal steht der Ministerpräsident selbst am Grill. Dort will er die Leute treffen, die die Zeitung und das Fernsehen politisch nicht mehr erreicht. Medienrevolution nennt er das. Es geht um die Wähler, die ihre Meinung in WhatsApp- und Telegram-Gruppen bilden und auf Facebook, die sich in ihre Blasen aus Gleichdenkenden zurückgezogen haben. „Diese lassen sich nur durch das persönliche Erleben und Kennenlernen durchdringen. Das fand ich in der Coronazeit richtig und wichtig, und das ist es heute noch“, sagte Kretschmer einmal im Interview mit unserer Redaktion. Stundenlang hinstellen, zuhören, diskutieren und die AfD nicht zu einer Märtyrerin machen, der die Etablierten angeblich ihre Rechte vorenthalten. Ein Verbotsverfahren gegen die AfD sieht er mit großer Skepsis, weil es die perfekte Vorlage für die Märtyrer-Geschichte wäre.
Kretschmer nimmt für sich in Anspruch, nicht nur den Kopf schräg zu legen und eine Zuhörerhaltung einzunehmen, wie es viele Politiker machen, um dann ihren Stiefel fortzusetzen, als wäre nichts geschehen. Er fordert eine Obergrenze für Flüchtlinge („Zahlen müssen runter“), er argumentiert seit Jahren gegen die Energiewende in ihrer jetzigen Form („neu aufsetzen“), er denkt öffentlich über die Reparatur der gesprengten Gasröhre Nord Stream nach, damit nach dem Krieg wieder billiges Gas aus Russland fließen kann („Option erhalten“). Er stellt sich gegen die Lieferung schwerer Panzer an die Ukraine und verlangt stärkere diplomatische Initiativen („Kehrtwende“), damit die Waffen schweigen. Im Osten Deutschlands haben diese Positionen starken Rückhalt bei den Wählern und Wählerinnen, auch die AfD bewirtschaftet sie. Viele Sachsen haben Angst vor Überfremdung. „Erst wenn die Probleme gelöst werden, mit denen die Leute unzufrieden sind, wird sich auch diese rechtsextreme AfD auflösen“, sagte Kretschmer auf dem Landesparteitag seiner Partei Ende November. Doch über diese Probleme wird in Berlin, Brüssel und Washington entschieden und nicht in Dresden.
Bei der letzten Wahl in Sachsen wurde die CDU doch noch stärkste Kraft
Obwohl er bei vielen der dicken Bretter wenig ausrichten kann und dezidiert konservative Positionen besetzt, darf sich der sächsische Regierungschef Hoffnung machen, dass ihm im Herbst Wähler von SPD, Grünen, FDP und Linken ihre Stimme geben. Damit die AfD nicht stärkste Partei wird. Vor fünf Jahren drehte der Effekt schlussendlich die Wahl, die CDU wurde stärkste Kraft. Dieses Mal könnte die Wirkung schwächer ausfallen, weil Kretschmer die Grünen und die Politik von SPD-Kanzler Olaf Scholz angreift. Dabei stützt er sich im Landtag auf eine Kenia-Koalition aus seiner CDU mit eben jenen gescholtenen Sozialdemokraten und Grünen. Womöglich machen weniger Wähler aus dem linken Spektrum noch einmal das Kreuz bei Kretschmer, weil er ihre Parteien ständig attackiert.
Als im Neustädter Saal das Licht ausgeht und die beiden Leugner des menschengemachten Klimawandels verschwunden sind, setzt sich der Ministerpräsident noch mit einer Kindergartenleiterin und einer Elternvertreterin zusammen. Sie reden über Kita und Schule. Kretschmer erzählt von seiner Zeit als Stadtrat, da war er um die 20. Jetzt geht er auf die 50 zu. So lange schon macht er Politik. Der Ton wird weich. Sein Sprecher geht eine rauchen. Es dauert mal wieder länger.
Ab und zu ist es auch Kretschmer zu viel. Er lässt dann in der Dienstlimousine Dampf ab, wenn er beim Zuhören zu viel Verschwurbeltes gehört hat. In Neustadt ist das nicht nötig, eine Handvoll Unzufriedene hat schon während der Diskussion in sich hineingrummelnd („Märchenstunde“) den Saal verlassen. Eine ältere Dame, Jahrgang '39, wie sie sagt, hatte allen Mut zusammengenommen und sich an das Mikrofon getraut. Sie dankt Kretschmer überschwänglich, wünscht ihm Gesundheit und Kraft. Ihr Lob trägt sie vor wie ein Schulkind, das angespannt vor Lehrerin und Mitschülern ein Gedicht aufsagt. „Das tut auch mal gut“, antwortet ihr der Ministerpräsident. Die Sachsen, sagt er dann, seien ein nettes Volk, aber es habe die Devise: Nicht geklagt sei genug gelobt. Ihm genügt das.