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Österreich: Nach Straches Skandal-Video: Mit wem soll Kurz jetzt regieren?

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Nach Straches Skandal-Video: Mit wem soll Kurz jetzt regieren?

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    Der Kanzler und sein Schicksal: Sebastian Kurz (links) regierte mit dem Rechtspopulisten Heinz-Christian Strache. Das hat nun ein Ende.
    Der Kanzler und sein Schicksal: Sebastian Kurz (links) regierte mit dem Rechtspopulisten Heinz-Christian Strache. Das hat nun ein Ende. Foto: Daniel Biskup

    Der Lärm der Trillerpfeifen ist ohrenbetäubend. "Neuwahlen. Neuwahlen", skandieren die Demonstranten auf dem Ballhausplatz. An diesem Samstag strahlt die Sonne vom Himmel, der in Wien so typische Puszta-Wind bläst von Westen. Familien mit Kindern und Hunden hat es in den Volksgarten gezogen. Die 5000 Menschen jedoch, die vor dem Kanzleramt unter dem Fenster von Sebastian Kurz stehen, treibt etwas anderes an. Sie wollen das Ende der türkisblauen Koalition miterleben.

    Jubel brandet auf, als Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der Freiheitlichen Partei FPÖ die Konsequenzen aus der Video-Affäre zieht, seinen Rücktritt erklärt und seine Frau Philippa mit Tränen in den Augen um Verzeihung für sein "alkoholbedingtes Macho-Gehabe" bittet. Während des sechsstündigen Essens mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen im Juli 2017 auf Ibiza habe er sich "dumm" und "prahlerisch wie ein Teenager" verhalten. Der Film, der Österreich seit Freitagabend so erregt, zeigt Strache, wie er einer angeblich schwerreichen Investorin als Gegenleistung für ihre Unterstützung im Wahlkampf unter anderem lukrative Staatsaufträge verspricht: "Dann können wir über alles reden."

    "Genug ist genug", sagt Österreichs Kanzler Sebastian Kurz

    Als Kurz am Samstagabend dann das Ende der Koalition verkündet, hat er lange mit sich gerungen. "Genug ist genug", sagt der 32-Jährige. Gefasst, prägnant, sortiert listet er erst eine Reihe der Erfolge der Koalition auf: Steuerreform, Schuldenabbau, Kampf gegen illegale Migration. Zugleich gibt er allerdings auch zu erkennen, dass ihn die FPÖ immer wieder zutiefst geärgert und irritiert habe. Der Kanzler erinnert an antisemitische Vorfälle im Umfeld der Freiheitlichen und an die Nähe der Partei zu den rechtsextremen Identitären: "Es gab viele Situationen, in denen es mir schwergefallen ist, das alles runterzuschlucken." Inzwischen hat die FPÖ bekannt gegeben, Norbert Hofer zu ihrem neuen Parteichef zu bestimmen. Johann Gudenus, ebenfalls Teil des Skandal-Videos, gab seinen Austritt aus der Partei bekannt.

    Auf dem Weg zum Rücktritt: FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache am Samstagmittag.
    Auf dem Weg zum Rücktritt: FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache am Samstagmittag. Foto: Hans Punz, dpa

    Nach Straches Rücktritt versucht Kurz zunächst noch, die taumelnde Koalition zu retten, indem er auf eine Ablösung von Innenminister Herbert Kickl drängt, der in der FPÖ als einer der Scharfmacher gilt. Zu diesem Opfer aber sind die Freiheitlichen nicht bereit, die unter Strache lange und beharrlich auf diese Regierungsbeteiligung hingearbeitet haben. Zudem ist Kickl beliebt an der Basis. Seine Ablösung hätte womöglich zur Spaltung der Partei führen können. Also entscheidet sich Kurz für Neuwahlen. Oder, wie er es formuliert: "Die FPÖ kann es nicht." Er habe nicht den Eindruck, dass die Partei zu grundlegenden Veränderungen bereit sei. "Die Neuwahlen waren kein Wunsch, sie waren eine Notwendigkeit."

    Strache unterstellt dem Kanzler gar "Sexorgien"

    Eigentlich will Wien an diesem Wochenende den 150. Geburtstag der Staatsoper groß feiern. Nun aber dominiert ein anderes Thema die Hauptstadt und das Land. Nach 18 Monaten hat Sebastian Kurz ein von Anfang an umstrittenes Projekt beendet. Er hatte den Ehrgeiz, die rechtspopulistische, eingeschworene Oppositionspartei FPÖ in der Koalition zu zähmen. Nun muss er einsehen, dass er die berühmte Latte zu hoch gelegt hat. In einigen bisher kaum bekannten Teilen des Video-Mitschnittes unterstellt Strache dem Bundeskanzler gar "Sexorgien" in "Drogenhinterzimmern".

    Wien, Ballhausplatz, Samstagabend: Gerade hat Bundeskanzler Sebastian Kurz das Ende seiner Koalition mit der FPÖ bekannt gegeben.
    Wien, Ballhausplatz, Samstagabend: Gerade hat Bundeskanzler Sebastian Kurz das Ende seiner Koalition mit der FPÖ bekannt gegeben. Foto: Roland Schlager, dpa

    Strache selbst sieht sich als Opfer einer Intrige und will mit den unbekannten Drahtziehern abrechnen. Die FPÖ lag am Boden, als er die Partei 2005 übernahm. Mit einem Anti-Ausländer-Kurs und dem Image eines volksnahen Politikers gewann die Partei neue Wähler. Im Dezember 2017 dann ging sein Traum in Erfüllung: Der gelernte Zahntechniker wurde im Kabinett von Sebastian Kurz Vizekanzler und Sportminister. Er fühlte sich sichtbar wohl in seiner Rolle, gab sich staatstragend und als braver Familienmensch. Zur Geburt seines Sohnes im Januar nahm sich der 49-Jährige sogar medienwirksam einen Monat frei.

    Was hat Jan Böhmermann mit dem Ibiza-Video zu tun?

    Auch die immer wiederkehrenden Vorwürfe aus der Vergangenheit – etwa eine zeitweilige Nähe zu Neonazi-Gruppen – stoppten Straches Weg nach oben nicht. Nun allerdings zeigt das Video aus Ibiza wieder einen ganz anderen Strache. Welche Rolle der deutsche Satiriker Jan Böhmermann in diesem bizarren Polit-Drama spielt, ist auch drei Tage danach noch unklar bis dubios. Wie sein Manager bestätigt hat, kennt der 38-Jährige das heikle Video bereits seit Wochen. Ja, mehr noch: Anfang April, bei der Verleihung eines österreichischen Fernsehpreises, sagte er in einer Videobotschaft Sätze, die sich im Nachhinein lesen, als habe er es mitgedreht: Den Preis könne er nicht persönlich abholen, frotzelte Böhmermann da, weil er "gerade ziemlich zugekokst und Red-Bull-betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchen-Villa auf Ibiza rumhänge". Er verhandele überdies darüber, wie er die KronenZeitung übernehmen könne, dürfe darüber aber nicht reden. In einer am Donnerstag ausgestrahlten Sendung, also am Tag vor Bekanntwerden des Strache-Skandals, legte er nach: "Kann sein, dass morgen Österreich brennt."

    Die Inszenierung einer Falle, wie sie Strache im Stile einer Stasi-Aktion gestellt wurde, trauen Böhmermann in Österreich allerdings nur wenige zu. Am Sonntag machen Spekulationen die Runde, ein Künstlerkollektiv mit dem schrägen Namen "Zentrum für politische Schönheit" könnte hinter der Aktion stecken. Die Provokateure aus Berlin haben, unter anderem, schon neben dem Wohnhaus des Thüringer AfD-Funktionärs Björn Höcke eine Art Ableger des Holocaust-Mahnmals aufgebaut und in der Schweiz dazu aufgerufen, den konservativen Publizisten Roger Klöppel zu töten. Ein Sprecher der Gruppe allerdings dementiert im Gespräch dem ORF, etwas mit dem Skandal-Video zu tun zu haben.

    „Genug ist genug“: Für Sebastian Kurz waren die Neuwahlen eine Notwendigkeit.
    „Genug ist genug“: Für Sebastian Kurz waren die Neuwahlen eine Notwendigkeit. Foto: Alex Halada, afp

    Auch Tal Silberstein, ein früherer Berater der österreichischen Sozialdemokraten, wird inzwischen als möglicher Urheber ins Spiel gebracht. Das Treffen von Strache, seinem Vertrauten Johann Gudenus und der vermeintlichen Geldgeberin auf Ibiza fand am 24. Juli 2017 statt. Wenige Tage später wurde Silberstein verhaftet. Er hatte im letzten Wahlkampf mit einer Schmutzkampagne gegen Kurz versucht, die Chancen des damaligen Kanzlers Christian Kern zu verbessern. Unter anderem hatte Silberstein mit einer Internetseite mit dem irreführenden Namen "Wir für Sebastian Kurz" den Eindruck zu erwecken versucht, der Kandidat tummle sich am Rande des rechten Spektrums.

    Strache selbst glaubt, ein Opfer von Geheimdiensten zu sein und spricht von einem "gezielten politischen Attentat". Vertreter dieser Theorie argumentieren, dass auf Ibiza Profis am Werk gewesen sein müssen. Mit sechs Kameras und Schauspielern zu arbeiten sei aufwendig und teuer. Westliche Geheimdienste hätten das Ziel haben können, mit der Aktion die Verbindungen der Freiheitlichen zu Russland zu beschädigen. Schließlich war Straches Begleiter Johann Gudenus, der inzwischen ebenfalls zurückgetretene Fraktionsvorsitzende im Parlament. Als Teenager war er Straches "Leibfuchs" in der Schülerverbindung "Vandalia", er stammt aus einer deutschnationalen Adelsfamilie, hat in

    Van der Bellen sagt: "Niemand soll sich für Österreich schämen müssen"

    Für westliche Geheimdienste, lautet diese Theorie, sei die FPÖ zum Sicherheitsrisiko geworden, weil sie über das Innenministerium in Wien Zugriff auf internationale vertrauliche Informationen hat. Deshalb hätte ein westlicher Dienst versucht, Strache und Gudenus zu kompromittieren. Ein Mann vom Fach nennt diesen Ansatz im Gespräch mit unserer Redaktion aber "lächerlich". Warum sei das Video gerade jetzt veröffentlicht worden? Habe der Urheber das Ende der seit Wochen heftig streitenden Koalition nahen sehen und befürchtet, das Material könnte bald wertlos werden? Geheimdienste gingen jedenfalls anders vor, auch wenn sie gelegentlich Lockvögel nutzten.

    Wie auch immer: Buchstäblich über Nacht ist Österreich in eine veritable Regierungskrise geschlittert, wenn nicht gar in eine gefühlte Staatskrise. Bundespräsident Alexander von der Bellen jedenfalls sieht in dem von Spiegel und SüddeutscherZeitung veröffentlichten Video ein "verstörendes Sittenbild". Er fürchtet um nicht weniger den Ruf des Landes. Das Staatsoberhaupt, dem ein guter Draht zu Kurz nachgesagt wird, drängte dem Vernehmen nach sofort auf Neuwahlen. Nur wenige Minuten nach Kurz tritt auch er am Samstagabend vor die Kameras. "Es sind beschämende Bilder und niemand soll sich für Österreich schämen müssen", sagt van der Bellen. "So sind wir nicht. So ist Österreich einfach nicht."

    Doch so umstritten die Rolle der FPÖ in der Regierung ist, so gut ist es Österreich unter der türkisblauen Koalition zuletzt gegangen. Die Renten sind höher als in Deutschland, der Staatshaushalt ist ausgeglichen und anders als in

    Die Ausgangslage für den beginnenden Wahlkampf ist also durchaus gut für Kurz. Meinungsforscher geben ihm beste Noten für seine Entscheidung, alles auf eine Karte zu setzen und die Koalition aufzukündigen. Die meisten Demoskopen gehen davon aus, dass die ÖVP profitiert und bei der für Anfang September geplanten Neuwahl kräftig zulegt und im Idealfall mit einem kleineren und pflegeleichteren Koalitionspartner regieren kann als bisher.

    Alexander Van der Bellen empfing Bundeskanzler Sebastian Kurz zum Gespräch in der Präsidentschaftskanzlei.
    Alexander Van der Bellen empfing Bundeskanzler Sebastian Kurz zum Gespräch in der Präsidentschaftskanzlei. Foto: Hans Punz/APA, dpa

    Nur mit wem soll sich Kurz verbünden? Zu einer absoluten Mehrheit wird es kaum reichen für die Konservativen, die Begeisterung der Österreicher für eine Neuauflage der Großen Koalition mit den Sozialdemokraten ist überschaubar und das Angebot an anderen potenziellen Koalitionspartnern aus seiner Sicht nicht sonderlich attraktiv.

    Wird Ibiza also womöglich gar zu einem zweiten Knittelfeld für die österreichische Politik?

    Knittelfeld – das steht für die erste Koalition aus ÖVP und FPÖ, die 2002 in der steirischen Kleinstadt an einer Art Palastrevolution bei den Freiheitlichen gescheitert ist. Damals traten erst mehrere ihrer Minister zurück, ehe Bundeskanzler Wolfgang Schüssel die Koalition schließlich beendete und Neuwahlen ausrief. Anschließend regierte er zwar sofort wieder mit der FPÖ – allerdings mit einer von 27 auf zehn Prozent geschrumpften und nicht mehr ganz so rebellischen FPÖ. Diesmal allerdings ist die Lage um einiges verzwickter: Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Freiheitlichen nicht geläutert aus der Video-Affäre gehen, sondern Strache insgeheim sein Comeback vorbereitet. Wenn schon nicht mehr Vizekanzler, dann wolle er wenigstens Bürgermeister von Wien werden, heißt es.

    Woher das brisante Video mit ihm in der Hauptrolle stammt, ist noch immer offen – und wird womöglich nie geklärt. Nach Darstellung der SüddeutschenZeitung wurde das Material der Redaktion in einem verlassenen Hotel übergeben. Österreichischen Kollegen bekamen der Film übrigens nicht offeriert. Die Entscheidung über eine Veröffentlichung wäre womöglich anders ausgefallen. Denn in Österreich nehmen Journalisten traditionell Rücksicht auf die Privatsphäre von Politikern. Hier heißt es häufig: Jeder weiß alles, aber niemand schreibt darüber. (mit dpa)

    Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Sebastian Kurz ist als Bewährungshelfer der FPÖ gescheitert

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