Eins steht fest: Das G20-Treffen in Rio de Janeiro, zu dem Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntagmittag aufbricht, wird nicht sein letzter Gipfel sein. Am 19. und 20. Dezember gibt es noch einen EU-Gipfel in Brüssel, der als Pflichttermin in seinem Kalender steht. Zu dem Zeitpunkt wird er nach jetzigem Stand zwar die Vertrauensfrage im Bundestag schon verloren haben, aber immer noch Kanzler sein.
Was noch nicht sicher ist: Wird er dann auch Kanzlerkandidat der SPD sein? Obwohl nun seit zehn Tagen feststeht, dass der Bundestag neu gewählt wird, hat die Parteispitze bisher darauf verzichtet, ihn mit einem Vorstandsbeschluss zu nominieren. Möglich gewesen wäre das am vergangenen Montag. Es passierte nichts. Das Ergebnis ist eine Debatte über die Einwechslung des in den Umfragen deutlich beliebteren Verteidigungsministers Boris Pistorius als Kanzlerkandidat, die immer mehr Fahrt aufnimmt.
Eine Überlebensfrage für die SPD?
Etliche Kommunalpolitiker haben sich inzwischen offen für Pistorius ausgesprochen. Die Stimmung in der Partei spreche klar für einen Wechsel, sagte zuletzt der Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Bochum, Serdar Yüksel, dem «Stern». «Wenn Sie in der SPD die Mitglieder befragen würden, wären 80 Prozent für Pistorius.» Ob Scholz noch einmal antrete, sei auch nicht allein seine persönliche Entscheidung. «Es geht jetzt um die Frage, ob die SPD überlebt.»
Die SPD-Spitze versucht seit Tagen vergeblich gegen die anschwellende Debatte anzureden. «Olaf Scholz ist der Kanzler. Und alle, die in der SPD Verantwortung tragen, haben in den letzten Tagen auch deutlich gemacht, dass wir hinter ihm stehen», sagte Parteichef Lars Klingbeil auch am Wochenende wieder am Rande einer SPD-Veranstaltung in Essen.
Müntefering: «Selbstverständlich sind Gegenkandidaturen möglich»
Kurz vor der Abreise des Kanzlers nach Rio meldete sich mit Franz Müntefering aber nun auch noch der wohl beliebteste noch lebende Ex-Parteichef zu Wort. Der 84-Jährige forderte eine Entscheidung auf einem Parteitag, notfalls in einer Kampfabstimmung: «Selbstverständlich sind Gegenkandidaturen in der eigenen Partei grundsätzlich möglich und kein Zeichen von Ratlosigkeit. Sie sind praktizierte Demokratie», sagte er dem «Tagesspiegel».
Mexiko-Reise abgesagt: «Es ist ja einiges los hier»
In dieser Situation ist Scholz jetzt erstmal für fast drei Tage weg. Beim Gipfel in Rio wird es um Armutsbekämpfung, die Reform internationaler Institutionen wie UN, IWF und Weltbank, Klimaschutz und natürlich auch um die Kriege in der Ukraine und in Nahost gehen. Am Rande wird der Kanzler bilaterale Gespräche führen, unter anderem mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping.
Eigentlich wollte Scholz am Dienstagabend auch noch weiter nach Mexiko reisen, in das einzige lateinamerikanische G20-Land, das er in seiner knapp dreijährigen Amtszeit noch nicht besucht hat. Dieser Teil der Reise wurde aber «aufgrund der aktuellen Situation» kurzfristig abgesagt, um «frühzeitig wieder hier in Berlin zu sein», wie es in seinem Umfeld hieß. «Es ist ja einiges los hier.»
Entscheidung bis zum 30. November
Scholz landet am Mittwochmorgen wieder in Berlin. Dann dürfte es nur noch eine Frage von Tagen sein, bis die Entscheidung in der K-Frage fällt. Bis zu dem für den 11. Januar geplanten Parteitag wird die Parteiführung nun nicht mehr warten. Am 30. November ist in Berlin eine «Wahlsiegkonferenz» geplant, auf der der Kanzlerkandidat seinen ersten großen Auftritt haben soll.
Viel hängt an Scholz selbst. Er hatte sich bereits im Juli auf seiner traditionellen Sommerpressekonferenz quasi selbst zum Kanzlerkandidaten gekürt. «Ich werde als Kanzler antreten, erneut Kanzler zu werden», sagte er damals. Für einen Wechsel müsste er nun einen Rückzieher machen. Lange Zeit galt das als undenkbar.
Scholz macht die Tür einen Spalt auf
In einem am Freitag veröffentlichten Interview der «Süddeutschen Zeitung» öffnete Scholz die Tür aber zumindest einen Spalt. Auf die Frage, ob er sich unter bestimmten Umständen vorstellen könnte, die Kandidatur zu überdenken, antwortete er ausweichend. «Na ja, die Umstände der nächsten Wahl sind doch ziemlich klar», sagte er. Auf die Nachfrage, wie es bei einer Verschlechterung der Umfragewerte wäre, fügte er hinzu: «Die Zuverlässigkeit solcher Umfragen ist überschaubar, wie die letzte Bundestagswahl gezeigt hat, auch wenn das manche schnell vergessen haben.»
Tatsächlich könnten die Umfragen in den nächsten Tagen noch eine Rolle bei der Entscheidung der K-Frage spielen. In einer am Samstag veröffentlichten Insa-Erhebung im Auftrag der «Bild am Sonntag» gewann die SPD einen Prozentpunkt auf 16 hinzu - liegt aber immer noch 16 Punkte hinter der Union mit 32 Prozent.
Ratschlag von Joe Biden in Rio?
In Rio wird Scholz auf einen treffen, der ihm vielleicht einen Rat geben kann: der scheidende US-Präsident Joe Biden. Der 81-Jährige hatte nach Zweifeln an seiner Fitness und massivem öffentlichem Druck seine Kandidatur für eine Wiederwahl zugunsten seiner Vizepräsidentin Kamala Harris zurückgezogen. Es half allerdings nichts. Harris verlor gegen den Republikaner Donald Trump, der am 20. Januar wieder ins Weiße Haus einziehen wird.
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