Totgesagte leben auch in der Politik häufig länger. Benjamin Netanjahu zum Beispiel ist nicht nur der mit Abstand am längsten regierende Ministerpräsident Israels – er hat es auch geschafft, nach verlorenen Wahlen zweimal wieder aus der Opposition zurückzukommen. Nun allerdings deutet vieles darauf hin, dass seine dritte Amtszeit als Premier auch seine letzte sein könnte.
Unter dem Eindruck der Ereignisse vom 7. Oktober hat sich das Meinungsklima in Israel komplett gedreht. Netanjahus Partei, der stramm konservative Likud, stellt im Parlament zwar mit 32 von 120 Sitzen die mit Abstand stärkste Fraktion. Würde heute neu gewählt, bekäme er nach den neuesten Umfragen allerdings nur noch 18 Mandate in der Knesset – kein Wunder also, dass sein schärfster Rivale, der frühere Generalstabschef und Verteidigungsminister Benny Gantz, auf vorgezogene Neuwahlen im Herbst drängt. Diese seien nötig, sagt der Vorsitzende der Mitte-Rechts-Partei Nationale Einheit, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung wiederherzustellen.
Israels Premier ist der Hamas weit entgegengekommen
In den Verhandlungen über eine Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln ist Netanjahu den Terroristen nun mit dem Angebot einer mehrwöchigen Waffenruhe weit entgegengekommen. Ob die Terrororganisation darauf eingeht, ist allerdings noch unklar. Sie fordert ein sofortiges Ende des Krieges, während Netanjahu seinen Landsleuten versprochen hat, die Hamas so zu bekämpfen, dass sie keine Gefahr mehr für Israel sein wird. Ob mit oder ohne Geiselabkommen, sagt er, „werden wir die Hamas-Bataillone vernichten.“ Sein Ziel sei ein „vollständiger Sieg“. Dazu gehört für ihn bisher auch ein Militäreinsatz in der Grenzstadt Rafah, in die sich Hunderttausende geflüchtet haben.
Im Moment steht Netanjahu gleich von mehreren Seiten unter Druck: In seiner Koalition knirscht es immer lauter. Mit den Regierungsgegnern, die schon vor den Massakern im Oktober in großen Demonstrationen wegen verschiedener Korruptionsvorwürfe seinen Rücktritt gefordert haben, verbünden sich inzwischen immer häufiger Angehörige der Geiseln, die sich von der israelischen Regierung alleine gelassen fühlen – und über allem schwebt ein drohender Haftbefehl, den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag angeblich gegen Netanjahu selbst, seinen Verteidigungsminister Yoav Galant sowie Generalstabschef Herzl Halevi wegen angeblicher, bisher aber nicht begründeter Kriegsverbrechen erlassen will.
Sollte es so weit kommen, warnt Netanjahu, wäre dies „ein beispielloses antisemitisches Hassverbrechen“. Sein Recht auf Selbstverteidigung werde sich sein Land auch vom Strafgerichtshof nicht nehmen lassen. Auf die Idee, ihn wegen Kriegsverbrechen oder Völkermordes anzuklagen, kämen zwar nicht einmal seine schärfsten Kritiker zu Hause, denn im Zweifel sind sie doch alle Israelis – in der internationalen Gemeinschaft aber haben Israel und sein Premier einen immer schwereren Stand. So hält US-Präsident Biden Netanjahu inzwischen sichtbar auf Distanz, dafür empfing Vizepräsidentin Kamala Harris vor Kurzem demonstrativ seinen Herausforderer Gantz im Weißen Haus.
Bejamin Netanjahus Bruder starb im Kampf gegen den Terror
Was Netanjahu für Israel geleistet hat, wird vor diesem Hintergrund gerne übersehen. Unter ihm wurde das Land zur führenden Start-up-Nation und wirtschaftlich immer erfolgreicher, er hat das Verhältnis zu einer Reihe arabischer Staaten entkrampft und mit den sogenannten Abraham-Abkommen eine Art Zeitenwende im Nahen Osten eingeleitet. Dass vor Kurzem auch mehrere muslimische Staaten mithalfen, den Raketenangriff des Iran auf Israel abzuwehren, ist auch eine Folge dieser Aussöhnung. Israels Sicherheit und der Kampf gegen den Terror waren für Netanjahu schon früh und aus äußerst tragischen Gründen ein Thema: 1976 hatten deutsche und palästinensische Terroristen ein Flugzeug ins ugandische Entebbe entführt. Einer israelischen Eliteeinheit gelang es, alle Geiseln zu befreien, nur ihr Kommandeur überlebte den Einsatz nicht – Netanjahus Bruder Yonathan.
Nun führt der palästinensische Terror den israelischen Ministerpräsidenten an die Grenzen seines Amtes. Sollte er die geplante Offensive in Rafah absagen, drohen dem 74-Jährigen seine radikal rechten Koalitionspartner mit dem Aufkündigen des Regierungsbündnisses. Bleibt er bei seiner Linie, riskiert er womöglich die Freilassung weiterer Geiseln. Dass Biden ihn zur Mäßigung aufgerufen hat und sechs von zehn Israelis finden, er solle sofort zurücktreten, wird Netanjahu dabei allenfalls am Rande interessieren. „Der Premierminister“, hat er diese Woche über sein Büro mitteilen lassen, „ist entschlossen, dem Druck standzuhalten.“