Am Tag nach dem Rückzug des Kontrahenten geht Olaf Scholz in die Offensive. Der Kanzler ist zu Gast beim 19. Demo-Kommunalkongress. Demo ist das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik, die Veranstaltung im Osten Berlins ist damit praktisch ein Heimspiel. Scholz sieht müde aus, die Augen sind noch kleiner als sonst, die Nacht war kurz. Gleichzeitig steht da einer, der vor Selbstbewusstsein strotzt. Nachdem er Verteidigungsminister Boris Pistorius in die Defensive gezwungen hat, kann Scholz nun Kanzlerkandidat der SPD sein. Bis zuletzt hatte selbst sein engstes Umfeld Zweifel, ob das wirklich klappt. Nur einer wusste es schon immer. Er selbst.
„Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, einen schönen guten Morgen!“, sagt Scholz grinsend ins Publikum. Der Kanzler hüpft immer wieder ein wenig auf und ab. Wenn er einen Satz besonders betonen will, beugt er sich nach vorne. Scholz hat offenbar beschlossen, schon mal für die nächsten Wahlkampfauftritte zu üben. Er, der manchmal bis zur Unverständlichkeit leise spricht, redet heute laut und zügig. Sprachwissenschaftler würden wohl diagnostizieren, dass der Regierungschef oft vom elaborierten in den restringierten Code wechselt. „Ich will das nur einmal erinnern und komme da auch gleich noch mal drauf“, sagt Scholz etwa in einer Tonlage, die dem Hamburger Platt nahekommt. Fehlt nur noch, dass ihm jemand eine Pulle Bier in die Hand drückt.
Olaf Scholz ist stocknüchtern und gleichzeitig berauscht von sich selbst
Wer den Kanzler da so hüpfen sieht, fühlt sich an die Beschreibung „besoffen von der eigenen Macht“ erinnert. Scholz ist stocknüchtern und gleichzeitig berauscht von sich selbst. Seht her, strahlt er aus, ich habe es euch doch allen schon immer gesagt, euch Medien, euch ewigen Nörglern, euch Meinungsforschern: Mit mir geht die Sache nach Hause.
Oft ist ihm Zögerlichkeit und Unfähigkeit unterstellt worden. Aber Scholz hat nie daran gezweifelt, dass er Führung liefert. Was seine eigene Karriere angeht, mag das sogar stimmen. Von Anfang an war ihm klar, dass das Regieren in einer Dreier-Koalition mit so unterschiedlichen Partnern wie Grünen und FDP sehr schwer werden würde. Ein mögliches Scheitern hatte er schon einkalkuliert, da war die Tinte auf dem Koalitionsvertrag noch gar nicht trocken. Die Geschichte vom Exit-Papier der FDP ist eine müde Erzählung der Liberalen, um die erlittene Schmach abzumildern. Denn tatsächlich hatte Lindner keine Chance gegen den Regierungschef.
Ende Oktober ist Kanzler Scholz in Indien. Die deutsch-indischen Regierungskonsultationen stehen an, es wird viel gesprochen, und dort schon macht ein Szenario die Runde: Scholz wirft Lindner aus der Koalition, wenn der seine Politik nicht mitträgt, und macht mit den Grünen in einer Minderheitsregierung weiter. Es ist in etwa der Ablauf, wie er sich eine gute Woche später tatsächlich ereignet.
Beim Demo-Kongress in Berlin fasst Scholz die Entwicklung so zusammen: In einer „ziemlich schwierigen Zeit“ hätten „die SPD und ich eine Koalition geformt. Wir haben sie hingekriegt, wir haben sie drei Jahre gemanagt. Und ich sage ausdrücklich: Am Ende war es mir auch wichtig, sie zu beenden. Denn das, was da miteinander passiert ist, das ging nicht so weiter“, sagt Scholz, macht eine kleine Pause, beugt sich vor, schaut verschwörerisch ins Publikum und sagt: „Und deshalb war es eine notwendige Entscheidung, den Bundesminister der Finanzen, Christian Lindner, zu entlassen.“ Es erheben sich da Töne, die der 66-Jährige in den letzten Wochen vermisst haben dürfte: Er bekommt Applaus.
Boris Pistorius hat den Weg für Scholz nicht aus reiner Selbsterkenntnis freigemacht
In seiner langen Ansprache geht der Kanzler immer wieder auf den Ukraine-Krieg ein. Der sei jetzt „die ganze Legislaturperiode im Gange“, sagt er eine Spur zu salopp, erwähnt einmal mehr die deutschen Unterstützungsleistungen und lobt: „Ich glaube, unser Land hat da was geleistet, um die Souveränität einer unabhängigen demokratischen Nation zu verteidigen.“ Er könnte jetzt sehr gut seinen Verteidigungsminister erwähnen. Tut er aber nicht. Es hat den Anschein, als ob Boris Pistorius für ihn bereits Geschichte ist. Weggeschickt, vom Platz getreten, so wie er es vorher mit Christian Lindner getan hat.
Boris Pistorius hat den Weg für Scholz nicht aus reiner Selbsterkenntnis freigemacht. Der Minister sei kräftig bearbeitet worden, verlautet aus dem Willy-Brandt-Haus. Dort, in der SPD-Zentrale, liefen zum Schluss alle Fäden zusammen. Scholz, Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und SPD-Co-Chef Lars Klingbeil machten Pistorius nachdrücklich klar, dass sie ihn nicht für einen geeigneten Kandidaten halten und er im Falle einer eigenen Kandidatur keine Unterstützung der Parteispitze bekommen werde.
Es ging da zum einen um inhaltliche Dinge. Pistorius hat in Sachen Ukraine mehrfach durchblicken lassen, dass er einen offensiveren Kurs fahren würde als der Kanzler. Scholz ist beispielsweise strikt gegen die Lieferung von Taurus-Raketen und liegt damit auf einer Wellenlänge mit Klingbeil und Mützenich. Bei Pistorius hätte die Entscheidung, wäre er Kanzler geworden, womöglich einmal anders aussehen können.
Vor allem aber sind es strategische Überlegungen, die am Ende dazu führen, dass Pistorius nach einer langen Phase des demonstrativen Zögerns am Donnerstagabend Scholz einen „hervorragenden Bundeskanzler“ nennt und betont: „Er ist der richtige Kanzlerkandidat.“ Die Parteiführung will in der kurzen Zeit bis zur Bundestagswahl am 23. Februar die Reihen schließen. Einen Spitzenkandidaten, der sich in Sozial- und Wirtschaftsthemen erst noch einarbeiten muss, passt nicht ins Konzept. Würde Pistorius im TV-Duell auf Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz treffen, hätte der Niedersachse gegen den Sauerländer bei vielen wichtigen Themen kaum eine Chance.
In den Umfragen steht die SPD bei 15 Prozent, die Union ist mehr als doppelt so stark
Scholz hingegen kann kontern, er wird vor allem immer wieder auf seine lange Regierungserfahrung zunächst als Vizekanzler und Kanzler verweisen. Auch in Sachen Waffenlieferungen an die Ukraine sind die Konturen bei ihm schärfer ausgeprägt als bei Pistorius. Die Botschaft: Wer dagegen ist, dass in Zukunft Taurus-Raketen aus deutscher Lieferung auf russischem Gebiet einschlagen, wählt Scholz, nicht Merz.
Klingbeil ist auch auf dem Kongress zu Gast. Während Scholz die Hüpfburg gibt, ist der Parteichef die Ruhe selbst. Breitschultrig steht er da, die Augen blitzen, als er sagt: „Aber Leute, wenn die SPD was kann, dann ist das doch kämpfen. Dann ist das doch, in die Auseinandersetzung mit Friedrich Merz und der Union zu gehen. Und das ist genau das, was wir jetzt tun.“
Klingbeil kann lesen und rechnen. In den Umfragen steht seine Partei bei 15 Prozent, die Union ist mehr als doppelt so stark. Der Parteichef aus der Lüneburger Heide nimmt das als Ansporn. „Wie häufig hat man uns in die Knie gezwungen und wir sind wieder aufgestanden. Dafür steht doch diese Partei. Wir machen uns nicht klein. Wir wissen, was Kampf bedeutet“, sagt er und ergänzt: „Und wir wissen vor allem, für wen wir kämpfen.“ Damit ist er beim zweiten Umfrage-Problem.
Es gibt Erhebungen, denen zufolge Scholz nicht nur beim Wahlvolk allgemein, sondern auch in den eigenen Reihen unbeliebt ist. Viele dieser Zahlen stammen allerdings aus der Phase, in der Pistorius noch als Alternative zu Scholz gehandelt wurde. Jetzt, wo der Minister als Kanzlerkandidat nicht mehr zur Verfügung steht, setzen die Wahlstrategen im Willy-Brandt-Haus auf einen Stimmungsumschwung zugunsten von Scholz.
In Wahrheit geht es für Scholz ab sofort nur noch darum, den Abstand zur Union zu reduzieren
Klingbeil hat dabei die Nehmerqualitäten von Scholz im Blick, schon oft hat der sich eine eingefangen. Auf dem SPD-Bundesparteitag 2003 in Bochum etwa wurde Scholz mit lediglich 52,6 Prozent der Delegiertenstimmen nur knapp als Generalsekretär bestätigt, kämpfte sich danach aber wieder nach oben. Bereits bei der Bundestagswahl 2017 wurde er als Kanzlerkandidat gehandelt, kam aber nicht zum Zug. Er war kurze Zeit kommissarischer SPD-Chef, dann zog Andrea Nahles an ihm vorbei. Als die zurücktrat, kandidierte Scholz zusammen mit Klara Geywitz für den Parteivorsitz – und verlor gegen das Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.
Am kommenden Dienstag empfängt Scholz den kirgisischen Präsidenten Sadyr Dschaparow zu einem Besuch im Bundeskanzleramt. Mögliche Gesprächsthemen sind die bilaterale Zusammenarbeit sowie wirtschafts- und geopolitische Fragen, also auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. So wird Regierungsarbeit simuliert, die nicht mehr stattfindet. In Wahrheit geht es für Scholz ab sofort nur noch darum, den Abstand zur Union zu reduzieren. Beim Demo-Kongress wird deutlich, dass es in seinem Wahlkampf eine stärkere Betonung jener Themen geben wird, die früher immer mit der SPD verbunden waren: bezahlbare Mieten, gute Renten und Löhne, eine Altschuldenregelung für die Kommunen etwa. Aber auch „das Management der irregulären Migration“ wird im Regierungsprogramm stehen.
Ob das reicht? Scholz kann auf seine Vorgängerin im Kanzleramt blicken. Angela Merkel überlebte mehrere Regierungskrisen. Wenige Wochen vor der letzten Bundestagswahl stand die SPD in den Umfragen ähnlich schlecht da wie heute. Damals half ihr Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU), der sich vor ernster Kulisse im zerstörten Ahrtal ein Lachen nicht verkneifen konnte. Niemand kann ausschließen, dass Friedrich Merz ein ähnlicher Fauxpas unterläuft.
Und wo besseres Wissen versagt, muss eben der Aberglaube helfen. Am Tag der Bundestagswahl am 23. Februar haben sowohl Lars Klingbeil als auch des Kanzlers Ehefrau Britta Ernst Geburtstag. Scholz betont das beim Kongress ausdrücklich und sagt: „Es muss also gut gehen.“
Zurecht strotzt Bundeskanzler Scholz schon wieder oder immer noch vor Selbstbewusstsein. Die Union strebt nach einer GROKO und die CDU/CSU-Politiker würden auch sehr gerne unter Scholz als Minister arbeiten Hauptsache dabei.
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