„Fähigkeitslücke“ - ein Begriff, der zwar kaum das Zeug dazu hat, Wort Jahres zu werden, aber seit dem 10. Juli in aller Munde ist. An diesem Tag verkündeten die Regierungen der USA und Deutschlands am Rande des Nato-Gipfels in Washington in dürren Worten die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik ab dem Jahr 2026. Auf diese Weise soll die militärische „Fähigkeitslücke“ gegenüber Russland geschlossen werden. Kanzler Olaf Scholz hatte in den USA von einer „sehr guten Entscheidung“ gesprochen. Deutschland brauche Schutz durch die Abschreckung mit Präzisionswaffen.
Doch das sehen längst nicht alle so. Dass die Linke die Pläne als unverantwortliche Aufrüstung bezeichnete, die Union sie aber grundsätzlich befürwortet, ist keine Überraschung. In der SPD ist das Meinungsbild am unübersichtlichsten. Während Fraktionschef Rolf Mützenich mit spürbarem Unbehagen vor dem Risiko einer militärischen Eskalation warnt, betont SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius die Bedeutung einer glaubwürdigen Abschreckung für die eigene Sicherheit.
Der außenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Nils Schmid, teilt die Einschätzung des Ministers: „Wir haben zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen konventionell geführten Landkrieg in Europa durch die russische Aggression gegen die Ukraine. Weitreichende Nato-Abstandswaffen sind unerlässlich, um Angriffe abzuwehren und abzuschrecken“, sagte der Baden-Württemberger im Gespräch mit unserer Redaktion.
Schmid verweist darauf, dass es die Russen waren, die ihr Arsenal in den letzten Jahren nuklear wie konventionell umfassend modernisiert haben. Zudem hätten sie Nuklearwaffen näher an das Nato-Gebiet herangerückt - wie die Stationierungen in Belarus und Kaliningrad zeigen würden. „Moskau hat also aufgerüstet. Darauf reagieren wir mit konventioneller Modernisierung.“ Tatsächlich verletzte die russische Aufrüstung im Bereich der Mittelstreckenwaffen das 1987 zwischen den USA und der früheren Sowjetunion geschlossenen INF-Abkommen zum Bann von landgestützten Marschflugkörpern und Raketen mittlerer Reichweite. Darauf reagierte Washington 2019 mit der Kündigung des Vertrags.
Welche Waffen sollen 2026 in Deutschland positioniert werden? Zunächst Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, die mit einer Reichweite von mehr als 2000 Kilometern Ziele in Russland treffen können. Zweitens SM-6-Mehrzweckraketen. Die Lenkflugkörper können andere Raketen abwehren, aber auch gegen Schiffe und Bodenziele eingesetzt werden. Beide Waffen sind in der Lage, Ziele hinter der Front äußerst präzise zu treffen. Nachrüstbar mit Atomköpfen sind sie nach Ansicht des US-Atomwaffenexperten Hans Kristensen derzeit nicht. In einem zweiten Schritt könnten auch neue konventionelle Hyperschallwaffen, die sich noch in der Entwicklungsphase befinden, stationiert werden.
Die Reaktion aus Moskau war voraussehbar
Voraussehbar war die Reaktion aus Moskau. Der Kreml drohte seinerseits mit weiterer Aufrüstung. Ausgerechnet Machthaber Wladimir Putin, der einen heißen Krieg in der Ukraine führt und dem Westen mehrfach explizit mit Nuklearschlägen gedroht hat, beklagte nun einen von der Nato angezettelten neuen Kalten Krieg. Dabei wäre die Stationierung für Russland nur dann eine Bedrohung, wenn Moskau seinen Expansionskurs noch ausweiten sollte. Moskau könnte die Stationierung von Nato-Waffen in Deutschland problemlos verhindern: durch einen Abbau der Arsenale in Belarus und Kaliningrad.
Das Thema Mittelstreckenraketen hat in Deutschland eine Diskussion auf zwei Ebenen ausgelöst. Einmal geht es natürlich um das Für und Wider. Dann aber auch darum, dass sich viele Abgeordnete im Bundestag überrumpelt fühlen. Nicht nur CDU-Chef Friedrich Merz zürnte, dass der Bundestag von Kanzler Scholz übergangen worden sei. Zwar müsste eine solche Stationierung nicht vom Bundestag beschlossen werden, aber auch in der SPD-Fraktion gab es kritische Stimmen zur Kommunikation des Kanzleramtes.
Nils Schmid: Die Stationierung wird in der Nato seit Jahren offen diskutiert
Nils Schmid kann die Aufregung nicht nachvollziehen: „Es ist ja schon lange Konsens in der Nato, dass diese Lücke in Europa geschlossen werden muss. Das wird bereits seit Jahren offen im Bündnis diskutiert - genau das sollten wir dann auch machen.“ Was seine Partei betrifft, glaubt er nicht an einen tiefgreifenden Dissens. Er sei sich sicher, dass die „ganz große Mehrheit“ in der Bundestagsfraktion die Stationierung und die Linie des Kanzlers im Grundsatz unterstützt. Auch Fraktionschef Rolf Mützenich tue dies. Er und andere wollten nur dafür sorgen, dass das Thema Rüstungskontrolle nicht in den Hintergrund gerate.
Dies müsse in der Tat verhindert werden, sagte Schmid: „Entscheidend ist, dass wir die Ankündigung der Stationierung mit Angeboten an Russland zur Rüstungskontrolle verbinden. Das ist die Gelegenheit zu testen, ob der Kreml überhaupt bereit ist, darüber in Bezug auf weitreichende Mittelstreckenraketen zu reden. In den letzten Jahren gab es diese Bereitschaft nicht. Wir versuchen es jetzt aber dennoch.“
Die Themen Ukraine-Krieg und Mittelstreckenwaffe könnten die Wahlen in Ostdeutschland beeinflussen
Die Themen Ukraine-Krieg und Stationierung von Mittelstreckenwaffen könnten den Ausgang der Wahlen in Thüringen und Sachsen am 1. September sowie am 22. September in Brandenburg spürbar beeinflussen. Die AfD und das Bündnis für Sahra Wagenknecht (BSW) thematisieren die Furcht in der Bevölkerung vor einer neuen Rüstungsspirale und davor, in den Krieg hineingezogen zu werden. Beide Parteien kritisieren die Rolle Deutschlands und der Nato an der Seite der Ukraine und lehnen neue US-Waffen auf deutschem Territorium vehement ab. Sie warnen vor immensen Kosten zulasten der Sozialpolitik.
Den finanziellen Aufwand für die Stationierung hält Außenpolitik-Experte Nils Schmid für unproblematisch. Schließlich handele es sich um Waffensysteme, über die die Amerikaner bereits verfügen und die dann unter Federführung der Nato hier stationiert werden würden. „Deshalb werden die Kosten überschaubar bleiben.“
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