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Marina Weisband spricht im Interview über ihr neues Buch, Politikverdrossenheit und Populismus

Interview

"Ich musste meiner Tochter erklären, dass uns Leute töten wollen, weil wir Juden sind"

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    Marina Weisband glaubt, dass Jüdinnen und Juden noch immer zu Sündenböcken gemacht werden.
    Marina Weisband glaubt, dass Jüdinnen und Juden noch immer zu Sündenböcken gemacht werden. Foto: Hermann Bredehorst/polaris/laif

    Frau Weisband, nicht nur Deutschland hat aktuell mit Politikverdrossenheit und Populismus zu kämpfen. Warum treten diese beiden Phänomene gerade überall auf der Welt so massiv auf?

    Marina Weisband: Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens wird die Menschheit gerade mit Problemen konfrontiert, die sie in ihrem herkömmlichen System nicht lösen kann. Wir merken, wir haben Kapitalismus auf Pump betrieben. In den westlichen Ländern hatten wir auf Kosten anderer Länder, unserer Umwelt und unserer eigenen Sicherheit so lange ein bequemes Leben. Aber seien es billiges russisches Gas auf Kosten unserer nationalen Sicherheit, billige Produkte auf Kosten unseres Klimas oder große Ernten auf Kosten der Böden – dieses System ist wie ein Heuschreckenschwarm, der unsere Ressourcen langfristig auffrisst. Deshalb macht sich in den reichen Ländern, die jetzt mit den negativen Konsequenzen dieses Systems konfrontiert werden, aber vor allem im globalen Süden, der schon länger und heftiger leidet, Unzufriedenheit mit diesem System breit.

    Was ist Ihrer Meinung nach der zweite Grund für Populismus und Politikverdrossenheit?

    Weisband: Viele Populisten und Faschisten sind international sehr gut vernetzt und nutzen dies aus, um Autoritarismus zu etablieren und Narrative zu setzen. Es ist kein Zufall, dass Populisten von Russland bis in die USA die Unisextoilette zum nationalen Feind erkoren haben. Dabei hatte sich daran kaum jemand gestört. Niemand wäre von sich aus auf die Idee gekommen, nach den Genitalien der Person zu fragen, die nebenan die öffentliche Toilette besucht. Aber solche Narrative werden von konservativen Thinktanks mithilfe von Psychologen erarbeitet und über internationale Konferenzen und Social Media verbreitet. Es handelt sich um einen gezielten Angriff auf die freie Gesellschaft.

    Der Tod des russischen Oppositionspolitiker Nawalny in einer russischen Strafkolonie hat wieder einmal das hässliche Gesicht von Autokratien gezeigt. Warum wählen Menschen weltweit trotzdem Autokraten?

    Weisband: Weil sie nicht Nawalny sein werden. Vielen Menschen sind scheinbare Sicherheit und Stabilität wichtiger als Freiheit. Meine Großmutter war am Boden zerstört, als die Sowjetunion zusammengebrochen ist. Sie sagte mir: „In der

    In Ihrem neuen Buch „Die neue Schule der Demokratie“ frage Sie nach den Ursachen von Politikverdrossenheit. Wer ist schuld: Politiker und Politikerinnen oder Wähler und Wählerinnen?

    Weisband: Politikverdrossenheit ist ein systemisches Problem. Diejenigen, die

    Diese steile These müssen Sie erklären.

    Weisband: Gerne. Nehmen wir das Bildungssystem als Beispiel. Wir alle wissen, dass viel zu wenig in Bildung investiert wird, obwohl wir wissen, dass Bildung ein sehr gutes Investitionskapital ist. Jeder Euro, den ich in Bildung investiere, zahlt sich für die Volkswirtschaft vielfach aus. Aber dieser Effekt tritt erst nach rund 20 Jahren ein – und eine Legislaturperiode dauert nur vier Jahre. Das gleiche Problem gibt es bei der Klimakrise. Unser politisches System ist also gar nicht darauf ausgelegt, Probleme zu lösen – und das ist ein Riesenproblem.

    Warum werden Sie nicht wieder Berufspolitikerin und machen es besser?

    Weisband: In dem bestehenden System könnte auch ich nur sehr wenig erreichen. Klar, ich könnte ehrlich kommunizieren und Visionen formulieren, aber dann würde ich von der medialen Landschaft, die hauptsächlich Pferderennen bis zur nächsten Wahl veranstaltet, abgestraft werden.

    Wieso sind Sie 2012 aus der aktiven Politik ausgestiegen?

    Weisband: Ich lebte damals von 660 Euro BAföG. Davon gingen 350 Euro für die Miete drauf. Vom Rest musste ich das Gesicht einer Partei sein, die in den Umfragen bei 13 Prozent lag. Nebenbei musste ich mein Psychologiediplom machen. Alles zusammen war nicht machbar.

    Verwalten oder gestalten: Politik ist in jedem Fall kompliziert. Würde die AfD sich entzaubern, wenn sie in Regierungsverantwortung käme?

    Weisband: Nein! Käme die AfD in Regierungsverantwortung, würde sie Faschismus betreiben. Ich verstehe überhaupt nicht, warum in Deutschland immer noch von Entzauberung die Rede ist. Ich habe im Geschichtsunterricht gelernt, dass alle glaubten, die NSDAP würde sich entzaubern, sobald sie in Regierungsverantwortung käme. Tatsache war, dass sie den Faschismus umgesetzt hat, den sie angekündigt hat. Man muss den Leuten glauben, wenn sie erzählen, was sie vorhaben. Die AfD hat unter anderem angekündigt, dass sie deutsche Staatsbürger deportieren wird, dass sie den Rechtsstaat umbauen, die Pressefreiheit einschränken und alles aussetzen würde, was unsere Gesellschaft zu einer freien Gesellschaft macht.

    Bei einem Treffen rechter Politiker in Potsdam wurden solche Deportationspläne diskutiert. Millionen Menschen sind auf die Straße gegangen, um gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu demonstrieren. Mittlerweile haben die Demonstrationen deutlich weniger Zulauf. Ist es den Menschen auf Dauer zu anstrengend sich zu engagieren?

    Weisband: Demonstrationen sind unglaublich wichtig, aber sie sind niemals ein nachhaltiges Mittel der Politik. Sie sind eine punktuelle Willenserklärung der Bevölkerung. Jetzt liegt der Ball bei der Politik. Die Politik muss ein Verbotsverfahren gegen die AfD einleiten, um die Demokratie zu schützen.

    Auf diesen Demonstrationen wird auch der Holocaust in nicht gerade kindgerechter Weise thematisiert. Soll man Kinder trotzdem zu den Demos mitnehmen?

    Weisband: Ich war sechs Jahre alt, als ich vom Holocaust hörte. Meine Tochter war fünf. Wir haben nicht das Privileg, unsere Kinder vor grausamen Realitäten abzuschirmen. In meinem Fall geht das schon deshalb nicht, weil es für mich sicherheitsrelevant ist. Meine Tochter fragte mich, warum immer Polizisten vor Ort sind, wenn sie ihre jüdische Jugendgruppe besucht. Ich musste meiner Tochter dann – möglichst kindgerecht – erklären, dass es Leute gibt, die uns töten wollen, weil wir Juden sind. Natürlich sollen Kinder nicht überfordert werden, aber sie müssen ernst genommen werden. Kinder haben ein Recht auf politische Partizipation.

    Zwingt man seinen Kindern seine politischen Ansichten auf, wenn man sie mit zu Demos nimmt?

    Weisband: Willkommen im Elternsein! Auch wenn ich mein Kind nicht mit zu Demos nehme, zwinge ich ihm doch die ganze Zeit meine moralischen Vorstellungen auf. So funktionieren Erziehung und Sozialisation nun mal. Ich kann mein Kind doch nicht in einen dunklen Raum sperren bis es 18 Jahre alt ist und dann hoffen, dass es sich in der Welt seine eigene Meinung bildet.

    Seit den schrecklichen Angriffen der Hamas am 7. Oktober und der brutalen Reaktion der israelischen Armee hat die Zahl der antisemitischen Übergriffe in Deutschland und weltweit stark zugenommen. Leiden Sie darunter persönlich?

    Weisband: Natürlich! Ich habe mich zum Beispiel sehr, sehr unwohl gefühlt, als ich mit meiner Tochter mit einem Plakat mit Davidsternen auf einer Demo gegen Fremdenfeindlichkeit war. Das war gruselig, zumal wir in der Nähe einer Gruppe standen, die mit Palästinaflaggen unterwegs war. Ich habe überhaupt nichts gegen Kampf für die palästinensische Sache, aber man weiß nie, in welche Gefahr man sich begibt, wenn man einen Davidstern trägt. Die Bedrohungslage hat eindeutig zugenommen. Seit dem 7. Oktober rufen Leute in meinem Büro an und schreien meine Mitarbeiter an und schicken mir Drohmails. Schon während der Coronakrise wurden wir Juden zu Sündenböcken gemacht. Das passiert auch bei jedem Aufflammen des Nahost-Konflikts.

     „Die neue Schule der Demokratie“ erschien am 24. April im S. Fischer-Verlag und kostet 22 Euro.
    „Die neue Schule der Demokratie“ erschien am 24. April im S. Fischer-Verlag und kostet 22 Euro. Foto: S. Fischer-Verlag

    Zur Person: Marina Weisband wurde am 4. Oktober 1987 in Kiew als Tochter jüdischer Eltern geboren. Sie kam 16 Monate nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zur Welt und lebte weniger als 100 Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt. Als Kind hatte sie schwere gesundheitliche Probleme, die sie auf die Strahlenbelastung zurückführt. 1994 zog sie mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Weisband studierte in Münster Psychologie. 2009 trat sie der Piratenpartei bei, 2018 wurde sie Mitglied der Grünen. Weisband lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in

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