Was geht vor in Nancy Faeser, als sie am Sonntagnachmittag in ihrer alten Grundschule im hessischen Schwalbach ihren Wahlzettel in die Urne wirft? Ahnt die schwarz gekleidete blonde Frau, wie dick es für sie in ein paar Stunden kommen wird? Dass sie am Abend die ganz große Verliererin dieser "kleinen Bundestagswahl" sein wird? Das einst rote Hessen für die SPD zurückholen, so lautete ihr Auftrag, als Bundesinnenministerin schien ihre Ausgangsposition glänzend. Dabei warnten schon bei der Nominierung zur Spitzenkandidatin im Februar viele vor einem schwierigen Spagat zwischen Berlin und Wiesbaden. Dass es um ihre politische Zukunft geht, weiß die 53-Jährige. Am Vortag, beim Wahlkampf-Finale in Marburg, sagte sie: „Rücktritt? Fragen Sie mich das morgen.“
Noch kurz zuvor hatten Medien unter Berufung auf "führende Regierungskreise" gemeldet, dass Bundeskanzler Olaf Scholz auch im Falle einer Niederlage an Faeser als Bundesinnenministerin festhalten wolle. Aber was sollen Regierungskreise so kurz vor der Wahl auch sagen? In Parteizentrale und Bundestagsfraktion der SPD haben schon vor Tagen die Spekulationen begonnen, wer Faeser nachfolgen könnte, wenn ihr Ergebnis ganz schlimm wird. Viele erwarteten hinter vorgehaltener Hand, dass Faeser selbst das Handtuch werfen würde, wenn sie nicht nur dem in Umfragen führenden CDU-Mann Boris Rhein unterliegen sollte, sondern sogar Platz zwei verfehlen, hinter Grünen, AfD oder schlimmstenfalls sogar hinter beiden landen. Genau nach diesem Ergebnis sieht es am Wahlabend dann aus.
Friedhofsstimmung bei SPD-Wahlparty
Als Faeser dann nach den ersten Prognosen vor die Genossen tritt, herrscht Friedhofsstimmung. Leider sei die SPD mit ihren Plänen für ein sozialeres Hessen, für kostenfreie Kitas nicht durchgedrungen. "Für euch tut's mir am meisten leid", tröstet sie ihr Wahlkampfteam. Und sie? Macht sie als Bundesinnenministerin einfach weiter, als wäre nichts geschehen? Über ihre eigene Zukunft verliert sie kein Wort. Doch die Hessen-Klatsche ist, klarer als in den meisten anderen Fällen, auch eine Abrechnung mit der Bundesregierung, zu deren wichtigsten Mitgliedern Faeser gehört. Kanzler Olaf Scholz steckt nun in der Zwickmühle. Nach den ungeschriebenen Regeln der Staatskunst müsste er ein "Wir-haben-verstanden-Signal" an das Wahlvolk schicken: Es wird sich etwas ändern am Kurs der Ampel. Solche Zeichen sind am mächtigsten, wenn sie sich in personellem Wechsel ausdrücken. Als der Kanzler seine glücklose Verteidigungsministerin Christine Lambrecht mit dem zupackenden Boris Pistorius ersetzte, gelang ihm das. Andererseits hat er Faeser offenbar versichert, dass eine Hessen-Pleite nicht das Ende ihrer Ministerinnenkarriere bedeute. Er selbst war es ja, der den Faeser-Plan ersonnen hatte: Die im Bund zuvor fast unbekannte hessische Landespolitikerin zur mächtigen Bundesinnenministerin machen, damit sie mit diesem Nimbus die einstige "rote Bastion" zurückerobert.
Mehr als 40 Jahre lang regierten Landesväter von der SPD in Wiesbaden. Doch seit 1999 ist Hessen fest in CDU-Hand. Es ist also keineswegs so, dass eine Niederlage für die SPD wie in Bayern eingepreist ist. Mit den hessischen Genossen wurde die Ampel abgestraft, die gerade keine größere Baustelle als die Migrationspolitik hat. Für die ist Faeser verantwortlich. Doch die Chance, sich dabei zu profilieren, konnte die Juristin nicht nutzen. Dabei schien ihr noch im Juni gelungen zu sein, was in all den Jahren zuvor niemand aus der deutschen Politik geschafft hatte: eine Einigung über eine Reform des europäischen Asylsystems zu erzielen. Doch jüngst waren es Faesers eigene Bedenken, die die Übereinkunft fast wieder platzen ließen. Die Innenministerin, deren Herz weit links schlägt und die energisch gegen Rechtsextremismus kämpft, irrlichterte zunehmend.
Peinliche Fehler und die "Causa Schönbohm"
Dazu passierten peinliche Fehler. So sorgte die Forderung in Faesers Programm für Wirbel, dass Flüchtlinge nach sechs Monaten das kommunale Wahlrecht bekommen. Kurz darauf korrigierte sich die Landes-SPD: Sechs Jahre seien gemeint. Viel politischen Kredit verlor Faeser in der Affäre um den von ihr nach unbewiesenen Vorwürfen in einer Fernsehsendung abservierten Bundes-Cyberabwehrchef. Arne Schönbohm fühlt sich gemobbt. Dem Innenausschuss des Bundestags, der gern erfahren hätte, inwiefern Faeser den Geheimdienst nach "Material" gegen den längst Geschassten suchen ließ, sagte Faeser zweimal ab, bevor sie dann doch persönlich jedes Fehlverhalten zurückwies. Ausgerechnet die Innenministerin, die Sicherheit im Land garantieren und selbst ausstrahlen soll, wirkte zunehmend wie eine Getriebene.
Boris Rhein triumphiert in Hessen
Zur Wahrheit von Faesers Scheitern gehört auch: Boris Rhein, der alte und voraussichtlich neue Ministerpräsident von Hessen, ist keine politische Lichtgestalt, die es jeder Konkurrenz allein durch die eigene Ausstrahlung schwer macht. Bevor der CDU-Politiker im Mai 2022 seinen ungleich bekannteren Vorgänger Volker Bouffier beerbte, war sein Name selbst vielen Landsleuten kein Begriff. Dabei war der 51-Jährige bereits 2010 Landesinnenminister geworden, von 2014 bis 2019 Wissenschaftsminister, anschließend Präsident des Landtags. Mit seinem pragmatischen grünen Vize Tarek Al-Wazir, der sich selbst als "Typ Doppelhaushälfte" bezeichnet, klappt die Zusammenarbeit. In der Bundespartei spielt der Jurist Rhein zumindest bislang kaum eine Rolle. Deren Chef Friedrich Merz darf sich durch den Erfolg in Hessen also ein Stück weit mit bestätigt sehen. Im Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur hat er wieder bessere Karten, weil CSU-Konkurrent Markus Söder in Bayern mau abschneidet. Bors Rhein dagegen muss verschmerzen, dass sich das Scheinwerferlicht am Abend seines Triumphs nicht zuerst auf ihn richtet. Sondern auf Nancy Faeser, die ganz große Verliererin.