Es war Mitte April, ein wolkiger Tag im Frühjahr 1945. Zehntausende russische und deutsche Soldaten, manche davon noch halbe Kinder, standen sich am Oderbruch gegenüber. Der letzte große Kampf des Zweiten Weltkriegs tobte in einer dünn besiedelten Gegend. Ein offenes Schlachtfeld, auf dem sich die Widersacher gegenüberstanden. Der Kontrast zu heute könnte kaum größer sein. In Gaza liefern sich die israelische Armee und die Kämpfer der Hamas inzwischen einen blutigen Häuserkampf. Die engen Gassen, das Tunnelsystem, die Vermischung von zivilen und militärischen Objekten: Für die Armee wird es immer schwieriger, zivile Opfer zu vermeiden. Die Rufe nach Zurückhaltung werden schriller. Als "völlig inakzeptabel" kritisiert die Weltgesundheitsorganisation den Einsatz, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht von einer "Vernichtungsstrategie". Der UN-Sicherheitsrat fordert in einer Resolution eine Waffenruhe im Gazastreifen. Doch Israel macht klar: Es wird keine Änderung des militärischen Vorgehens geben.
Seit Tagen steht vor allem das Schifa-Krankenhaus im Herzen von Gaza-Stadt im Mittelpunkt der Kämpfe. Israelische Soldaten sind in den Komplex eingedrungen und haben dort nach eigenen Angaben Waffen der Hamas gefunden. Noch immer sollen dort aber auch mehr als 2000 Menschen festsitzen. Das Krankenhaus war mit 700 Betten der wichtigste Klinikkomplex im Gazastreifen. Ärzte versuchen dort noch immer, das Leben von Verwundeten zu retten. Videos und Fotos zeigen, wie sie nur mit dem Licht von Taschenlampen oder Mobiltelefonen im Halbdunkeln operieren.
Krankenhäuser sind im Völkerrecht streng geschützt
Überschreitet Israel mit seinem Vorgehen seine Grenzen? "Israel muss auf jeden Fall aufpassen, dass es nicht zu weit geht", sagt Daniel-Erasmus Khan, Völkerrechtsprofessor an der Universität der Bundeswehr in München. "Denn eine der wichtigsten Grundregeln des humanitären Völkerrechts ist der Schutz der Zivilbevölkerung." Und doch warnt er vor einem zu schnellen Urteil. Denn ein Mittel der Kriegsführung durch die Hamas ist auch das gezielte Verbreiten von Bildern: verletzte Kinder, getötete Zivilisten, ein umkämpftes Krankenhaus. "Die Sprache dieser Bilder ist sehr stark", sagt Khan. Und sie verfehlt ihre Wirkung nicht. "Den Krieg der Bilder hat die Hamas eigentlich schon gewonnen", sagt der Experte. "Doch wer allein aus ihnen die Schlussfolgerung zieht, dass Israel das Völkerrecht verletzt, der sieht nur die halbe Wahrheit."
Zwar sei das Schifa-Krankenhaus grundsätzlich ein ziviles Gebäude und damit streng geschützt. "Allerdings wird die Klinik von Israel als militärisches Objekt eingeschätzt", sagt Khan. Das Militär beschuldigt die Hamas, unter dem Gebäude ihre Hauptkommandozentrale zu verstecken. Dazu legte die Armee inzwischen Geheimdienstinformationen vor. Auch Satellitenaufnahmen sowie eine Audioaufnahme sollen die Existenz des Hamas-Lagers dokumentieren. Außerdem soll die Schifa-Klinik an das kilometerlange unterirdische Tunnelnetz der Hamas angebunden sein. Mehrere Eingänge sollen sich auch innerhalb der Klinik befinden. Israel geht zudem davon aus, dass auf mehreren Etagen unter der Erde Besprechungsräume, Wohnräume sowie Lagerräume gebaut wurden. Unabhängig lassen sich die Informationen nicht überprüfen. Doch Fakt ist: "Wenn die israelischen Angaben, dass das Krankenhaus der Hamas als Deckung für militärische Infrastruktur dient, zutreffen, dann ist ein Angriff darauf grundsätzlich möglich", betont der Völkerrechtler und lenkt den Blick zurück auf die Hamas: Zivile Objekte zum Schutz militärischer Infrastruktur zu nutzen, sei ein Kriegsverbrechen.
Hamas begeht eindeutige Kriegsverbrechen
"Man muss klar betonen: Israel bemüht sich ganz eindeutig, nur militärische Ziele zu attackieren – auch wenn es dabei zivile Opfer in Kauf nehmen muss. Die Hamas hingegen hat am 7. Oktober ganz gezielt die israelische Zivilbevölkerung angegriffen", sagt Khan. Es könne also durchaus sein, dass es die palästinensischen Kämpfer sind, die sich eines Tages vor dem Strafgerichtshof in Den Haag verantworten müssen. Die Regeln des Völkerrechts gelten nämlich keineswegs nur für staatliche Akteure, sondern für alle." Auch wer Krankenhauspersonal als Schutzschild benutzt, ist ein Kriegsverbrecher und muss damit rechnen, vor Gericht gestellt zu werden." Und noch eine Regel wird von der Hamas missachtet: Kämpfer müssen sich auf den ersten Blick von Zivilisten unterscheiden. Das müsse keine Uniform sein, auch Armbinden würden reichen. "Man nennt das Unterscheidungsgebot", sagt Khan.
Trotzdem sei Israel bei all seinen militärischen Einsätzen gehalten, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. "Die Frage ist: Was ist der militärische Nutzen und was sind die zivilen Risiken, die man eingeht?", sagt Khan. Wenn sich also unter einem Krankenhaus eine militärische Kommandostruktur verberge, sei der Handlungsrahmen für das israelische Militär relativ groß." Anders sähe es aus, wenn es etwa um eine einzelne Raketenstellung ginge – in so einem Fall darf man nicht ganze Häuserblocks in die Luft jagen", so der Experte. Hinzu kommt: Sollten sich die Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Schifa-Krankenhaus als falsch herausstellen, müssten die Angriffe unverzüglich eingestellt werden: Wider besseres Wissen ein ziviles Objekt zu attackieren, sei ein klarer Völkerrechtsverstoß.
Für Israel ist die Kritik nicht neu, in den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Gefechte rund um den Gazastreifen gegeben. Zuletzt war die Armee im Jahr 2009 mit Bodentruppen in der Region. Es ist ein Einsatz auf vermintem Gelände – im wahrsten Sinne des Wortes. "Israel kennt die Regeln des humanitären Völkerrechts ganz genau", sagt Khan. Im Verteidigungsministerium seien sehr erfahrene Völkerrechtler beschäftigt. Ein Vorgehen aus vergangenen Kriegen wird auch diesmal angewandt: Die Armee wirft regelmäßig Flugblätter über dem Gazastreifen ab, um die Menschen vor Bombardements zu warnen. Sie fordert seit Wochen zur Evakuierung der besonders umkämpften Gebiete auf.