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Krieg in der Ukraine: Warum die meisten Kriegsflüchtlinge in Polen bleiben wollen

Krieg in der Ukraine

Warum die meisten Kriegsflüchtlinge in Polen bleiben wollen

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    Polnische Helfer nehmen ukrainische Flüchtlinge am Bahnhof in Przemysl nahe der Grenze zur Ukraine in Empfang.
    Polnische Helfer nehmen ukrainische Flüchtlinge am Bahnhof in Przemysl nahe der Grenze zur Ukraine in Empfang. Foto: Czarek Sokolowski, dpa

    Manchmal kommen Chris Melzer inmitten des Flüchtlingsdramas an der polnisch-ukrainischen Grenze Tränen der Rührung. Zur Arbeit des Mitarbeiters des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen gehört es unter anderem, Kriegsflüchtlinge über die tragischen Umstände ihrer Flucht zu befragen.

    Als er eine junge Mutter interviewte, versuchte sich ihre fünfjährige Tochter hinter ihrem Rücken zu verstecken und blickte nur kurz scheu zu dem fremden großen Mann herauf. „Als ich mit dem Gespräch fertig war, mich bei der Mutter bedankt habe, ihr viel Glück wünschte und ging, riss sich nach ein paar Metern plötzlich das Mädchen los, rannte hinter mir her und umarmte mich an der Hüfte“, erzählt Melzer. Die Mutter entschuldigte sich: „Bitte verzeihen Sie, sie vermisst ihren Papa so sehr.“

    Die größte Flucht seit dem Zweiten Weltkrieg

    Es sind fast nur Frauen und Kinder, die der deutsche UNHCR-Mitarbeiter im südostpolnischen Karpatenvorland bei seinen vielen Besuchen an den Grenzübergängen zur Ukraine zu Gesicht bekommt. „Ich habe inzwischen mit eigenen Augen vermutlich mehrere Zehntausend Kriegsflüchtlinge aus der

    Der 49-jährige UNHCR-Mitarbeiter verfolgt jeden Tag die größte Massenflucht Europas seit dem Zweiten Weltkrieg aus nächster Nähe. Das UN-Hilfswerk zählte bis Dienstagmittag über zwei Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge, allein 1,2 Millionen kamen inzwischen in Polen an. „Das hat es so in Europa in den letzten 75 Jahren nicht gegeben“, betont Melzer. „Nicht nach der russischen Invasion in Ungarn 1956 und auch nicht bei den Balkankriegen in den neunziger Jahren.“

    Die aktuelle Krise stelle zahlenmäßig selbst die Fluchtkatastrophe der Rohingya vor fünf Jahren nach Bangladesch in den Schatten. „Das waren rund 800.000 Menschen über einen Zeitraum von über zwölf Wochen. Jetzt haben wir die doppelte Zahl innerhalb von zwölf Tagen.“

    Polen reagiert bestens organisiert auf Flüchtlingswelle

    Für Polen sei diese Belastung enorm, doch das Land meistere die Situation geradezu vorbildlich, berichtet Melzer. Regierung und Behörden hätten sich sehr gut vorbereitet, und die Hilfsorganisationen vor Ort seien bestens organisiert. „Alle tragen Uniform, das Rote Kreuz, die Feuerwehr, die Behördenbüros, die Nonnen, die Pfadfinder, die Soldaten. Und wer keine Uniform hat, der trägt auf der Jacke ein Kennzeichen als freiwilliger Helfer.“ Auf den Westen stehe zudem, welcher Helfer Ukrainisch spreche.

    „Die große Ironie ist, dass sich viele Polen und Ukrainer ausgerechnet auf Russisch miteinander unterhalten, weil sie es in der Schule gelernt haben“, erklärt Melzer. „Die Hilfsbereitschaft der polnischen Bevölkerung ist enorm“, betont er. Polnische Kinder spendeten ihre Spielzeuge, ihre Eltern kauften neue Winterkleidung und neue Schlafsäcke für die Kriegsflüchtlinge. „Die Menschen stehen mit Pappschildern an der Grenze, auf denen steht: Wo willst du hin? Und dann fahren sie Leute tatsächlich durch ganz Polen.“

    Doch die meisten Kriegsflüchtlinge wollen in Südostpolen bleiben, berichtet Melzer. „Wir sind am Anfang als Planung davon ausgegangen, dass 70 Prozent der Kriegsflüchtlinge in Polen bleiben und 30 Prozent in andere Länder weiterreisen“, sagt der UNHCR-Mitarbeiter. „Nachdem ich hier mit mehreren hundert Flüchtlingen gesprochen habe, ist mein persönlicher Eindruck, dass wahrscheinlich 90 Prozent in Polen bleiben wollen.“

    Nur ein Bruchteil will nach Deutschland weiterziehen

    Nur etwa jeder Zehnte gebe an, nach Deutschland, England, Spanien oder Frankreich zu wollen. „Aber nie mit der Begründung, dass es ihnen dort vielleicht besser gehe. Die Menschen sagen, ich habe eine Tante in Frankfurt, mein Bruder ist in Manchester oder sie haben Verwandtschaft in Madrid.“

    Doch die meisten wollen lieber dort in der Nähe bleiben, wo sie ankommen. „Sie hoffen, einfach schnell wieder zurück in die Ukraine zu können“, sagt Melzer. „Ich bekomme zehnmal am Tag die Frage gestellt: Was glauben Sie denn, wann wir wieder nach Hause gehen können?“ Es fällt ihm schwer zu antworten, weil heute niemand die Antwort weiß.

    Flüchtlingshelfer erleben bewegende Szenen

    „Wenn die Menschen hier ankommen, schwanken sie zwischen Erleichterung, dass sie es in Sicherheit geschafft haben, und der Unsicherheit, wie es jetzt weitergehen soll“, erklärt Melzer. „Viele Frauen sagen, ihnen geht es gut, aber sie sind in großer Sorge um ihren Mann, ihren Vater und fragen sich, ob sie jetzt alles verloren haben?“ Die meisten Kriegsflüchtlinge waren tagelang auf der Flucht, nachts sei es in der Ukraine und Polen derzeit minus fünf Grad kalt, berichtet Melzer. „Rein körperlich sind die meisten in recht guter Verfassung, obwohl sie durchgefroren, ausgehungert und müde sind“, sagt er.

    „Aber die psychischen Folgen der Flucht lassen sich noch nicht einmal erahnen. Manche Frauen und Kinder konnten sich nicht mal von ihren Männern und Vätern richtig verabschieden.“ Die Kinder klammerten sich an ihre Plüschtiere: „Ein Mädchen hat mir seinen Plüschfuchs Foxy vorgestellt. Er war für sie das Wertvollste auf der ganzen Welt.“

    Das Leid der Kriegsaugenzeugen ist schwer zu ertragen

    Obwohl der UNHCR-Mitarbeiter in den vergangenen Jahre schonsehr oft mit Flüchtlingsleid und Trauer konfrontiert war, gehen ihm die vielen Gespräche mit Kriegsflüchtlingen sehr nahe. „Eine Kindergärtnerin erzählte mir, dass auch Kinder in ihrer Stadt getötet wurden: Sie sagte immer wieder, sie waren so klein, sie waren so klein und sie lagen einfach da."

    All das sei auch für die vielen Helferinnen und Helfer in Polen schwer zu ertragen. „Alle tun, was sie können“, sagt Melzer. „Aber wir haben bei der Masse der Menschen meist nicht mal die Zeit dafür, Trost zu spenden und professionelle psychische Hilfe zu leisten“, erklärt er. „Wenn man den Menschen einfach zuhört und sie – Corona hin oder her – einfach umarmt, ist es schon viel wert, auch wenn das keine Probleme lösen kann.“

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