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Krieg in der Ukraine: Proteste in Russland werden zum Aufstand der Einzelnen

Krieg in der Ukraine

Proteste in Russland werden zum Aufstand der Einzelnen

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    Protest auf den Straßen, wie hier in Berlin, sind in Russland nicht mehr möglich. Für Teilnehmer drohen Haftstrafen.
    Protest auf den Straßen, wie hier in Berlin, sind in Russland nicht mehr möglich. Für Teilnehmer drohen Haftstrafen. Foto: Michael Hanschke, dpa

    Ein weibliches Menschenkäferchen namens Masjanja, das irgendwie aussieht wie der deutsche Comic-Beinhart und in Russland den Kultstatus von Bert aus der Sesamstraße hat, ist in Moskau in den Kreml eingestiegen. Dort beschimpft es den Präsidenten Vladimir Putin. Es prangert ihn an, nun in einer Clique mit Hitler und Osama bin Laden zu sein, und verurteilt den Krieg in der Ukraine. Was dann im fiktiven Comic folgt, ist kein gutes Ende für Putin.

    Das Käferchen Masjanja spricht in dem Video auf YouTube aus, was für Aktivisten auf den Straßen Russlands kaum mehr möglich ist. Öffentliche Kritik an der Politik des Kremls ist lebensgefährlich geworden. Es drohen jahrelange Gefängnisstrafen. Sicherer scheint es zu sein, online zu kritisieren. Oder einfach nur zu beobachteten. Wie es bereits 5,5 Millionen Menschen bei Masjanja in Sozialen Netzwerken getan haben.

    Proteste gegen den Krieg in der Ukraine finden in Russland online statt

    Überhaupt hat sich russischer Protest gegen den Krieg in der Ukraine dorthin verlagert. Nicht ohne Grund: Laut der unabhängigen Organisation OVD-Info sind seit 24. Februar, dem Tag des Einmarsches russischer Soldaten in der Ukraine, 15.445 Menschen in Russland verhaftet worden, weil sie bei Antikriegsaktionen teilgenommen haben. Protestiert wird nun online, per Telegram, Twitter, Facebook, YouTube und TikTok.

    Aktionen gegen die Regierung werden mittlerweile so streng bestraft, dass selbst weit weniger bekannte Aktivisten fliehen. Menschen, wie der Universitätsdozent Ilya Matveev. Er hat seine Heimat verlassen. Oder wie er selbst sagt: „Ich bin aufgesprungen auf die Welle der politischen Emigranten.“ Aus Angst vor dem FSB, dem russischen inländischen Geheimdienst. Um ihn zu schützen, soll sein genauer Aufenthaltsort im Ausland hier keine Rolle spielen.

    Auch die Menschen in Russland spüren die Auswirkungen des Kriegs

    Matveev hat an den Straßenprotesten nicht teilgenommen, wobei er betont, dass dies zu Beginn des Krieges tausende Mutige getan hätten. Was ihn daran hinderte, ist sein Lehrauftrag an einer Universität in St. Petersburg. Den hat er noch immer, zumindest bis zum Ende dieses Semesters. Und dann? „Ich weiß es noch nicht“, sagt er. Der Politologe liebt sein Land. Weil er aber immer wieder öffentlich die Politik des Kremls kritisiert hat, ist es ihm dort zu gefährlich geworden. Jetzt twittert er. Vor rund zwei Monaten hat er sich auf der Plattform angemeldet. Über 16.000 Menschen folgen nun seinen Beiträgen.

    Zusätzlich betreibt er mit einem Freund einen Podcast. Der Krieg in der Ukraine, sagt Matveev, war auch für Russlands Bürgerinnen und Bürger ein Wendepunkt. Zwar sei offiziell nie der Notstand ausgerufen worden, praktisch erlebe man ihn jedoch als Bürger: Seit März seien unzählige neue Gesetze verabschiedet worden. Darunter eines, dass die Veröffentlichung von „Falschnachrichten“ über die russische Armee verbietet. „Wer also den Krieg kritisiert, kritisiert das Militär“, sagt Matveev. Zwei Wörter wie „no war“ können ausreichen, um hohe Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft zu riskieren. Auf Matveevs Twitter-Profil prangt groß „Fuck war“.

    In Russland drohen Demonstranten viele Jahre Haft

    Wagen Aktivistin Protest, folgen oft harte Strafen: Weil Alexandra Skochilenko in St. Petersburg in Geschäften Preisschilder mit Anti-Kriegsbotschaften und Fakten überklebte, erhielt die Künstlerin zehn Jahre Haft. Das schreckt ab – und zieht vor allem Kulturschaffende ins Netz: darunter die russische Schauspielerin Renata Litvinova. Auf YouTube veröffentlichte sie ein Video, in dem sie fragt: Wann werdet ihr es jemals lernen? Allein steht sie dabei schwarz gekleidet auf einer Bühne, ohne Publikum vor einem leeren Saal. Gesehen haben es online aber bereits über eine Millionen Menschen.

    Ebenso die Rockband Leningrad. „Geopolitik“ heißt einer ihrer vielen kritischen und auch diskutierten Songs, die seit Beginn des Krieges veröffentlicht wurden. Die Band thematisiert die russische Propaganda, singt: „Das ist kein Massaker, sondern eine Spezialoperation.“ Gesehen haben es über fünf Millionen Menschen. Und am Moskauer Bolschoi-Theater, dem Ort, an dem Nationalstolz den russischen politisch wichtigen Sinn für Kultur trifft, spaltet sich die Ballettwelt aufgrund ihrer Meinung zum Krieg in der Ukraine – öffentlich machen die Tänzer das per Sozialer Medien. Darunter die Stars der Szene, Artem Ovcharenko und ein Tänzer des St. Petersburger Mariinski-Theaters, Vladimir Shklyarov.

    Was die Schauspielerin Renata Litvinova, den Politologen Matveev, die vielen Sängerinnen und Sänger und einige Balletttänzer eint: Viele haben ihr Land verlassen. Das hat kürzlich auch die Aktivistin Maria Aljochina getan, die Sängerin der Skandalband Pussy Riot. Zwar müssen nicht alle wie sie, verkleidet als Essenslieferant unter dem Schutz von Mütze, Schal und dem Wärmerucksack für Lebensmittel, vor der Polizei fliehen. Ein Wagnis ist es aber trotzdem. Wer flieht, hat vom Ausland aus dann allerdings nur begrenzte Möglichkeiten. Zwar stehen sie alle auf, gegen den Krieg in der Ukraine, gegen den Machthaber Putin. Sie tun das aber allein. Gemeinsame Aktionen gibt es kaum.

    Keine oppositionellen politischen Gruppen polarisieren mehr in Russland

    „Es gibt keine politischen Gruppen mehr, die die Bürger mobilisieren könnten“, sagt Metveev. Alexei Nawalny, der frühere oppositionelle Hoffnungsträger, sitzt weiterhin in Haft. Der Protest in den Sozialen Medien erfährt so seine Grenzen: Spontane Aufstände, öffentlich gemacht auf Facebook-Posts, sagt Matveev, werden nur von einem gewissen Kreis an Menschen gesehen. „Und diese Grenzen sind bereits erreicht.“ Ein Aufstand innerhalb des Landes sei so kaum mehr möglich, meint Matveev.

    Die russische Internetseite der Macher des Menschenkäferchens Masjanja ist mittlerweile gesperrt, ihre Videos können dort nicht mehr gesehen werden. Dort steht: „Während die Ritter des Königs die Zivilbevölkerung angreifen, verwenden wir besser YouTube.“ Westliche Plattformen helfen weiter. Auch die Band Pussy Riot hat einen Weg gefunden. Sie tourt durch Europa und protestiert mit ihrer Performance gegen das Putin-Regime. Die Einnahmen ihrer Konzerte sollen an Kriegsopfer gehen. Und Matveev? Auch er plant und macht politische Einschätzungen öffentlich. Zurück in seine Heimat kann und will er auf unbegrenzte Zeit jedoch nicht.

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