Ohne Wehrpflicht wird Deutschland sich auf Dauer kaum verteidigen können – auch das hat der Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine schonungslos offengelegt. Richtete sich der Blick zunächst auf die eklatanten Mängel bei der Ausrüstung der über Jahrzehnte kaputt gesparten Bundeswehr – auf Flugzeuge, die nicht fliegen, Panzer, die nicht fahren und Kriegsschiffe, die nicht schwimmen – wird immer klarer, dass es auch im personellen Bereich einer Zeitenwende bedarf. Selbst die derzeitige Truppenstärke von unter 200.000 zu gewährleisten, wird angesichts eines immer heftigeren Fach- und Arbeitskräftemangels zur riesigen Herausforderung. Soldatinnen und Soldaten aber können nicht wie in anderen Bereichen im Ausland angeworben werden. Das verbietet das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" in einer vom Parlament kontrollierten Armee. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius und Eva Högl, die Wehrbeauftragte des Bundes, beide von der SPD, denken also wie etliche Unionspolitiker mit gutem Grund laut über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nach.
Die Bundeswehr braucht neben finanziellen Mitteln auch Personal
Die war 2011 wohlweislich nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt worden. Damals galt das Ideal einer schlanken Berufsarmee, die in weit entfernten Krisengebieten eher indirekt die deutsche Sicherheit mit verteidigt. Nach dem Ende des Kalten Krieges war das wiedervereinte Deutschland nur noch von Freunden umgeben, der Gedanke, die Bundeswehr müsse in absehbarer Zeit die eigene Bevölkerung vor mordenden, plündernden und vergewaltigenden Invasoren schützen, schien geradezu absurd. Doch seit rund einem Jahr herrscht Krieg in Europa, ein Ende ist nicht in Sicht, die Bedrohung könnte sich weiter zuspitzen. Die marode Bundeswehr wieder flottzubekommen, wird lange dauern und weit mehr kosten, als die 100 Milliarden Euro im Sondervermögen zur Ertüchtigung der Streitkräfte.
Ohne hoch qualifizierte Soldatinnen und Soldaten aber wäre selbst das modernste Gerät wertlos. Mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen helfen, reichen aber gerade in gefährlichen Zeiten nicht aus, um genügend Leute zur Truppe zu bringen. Wehrdienstleistende, der Einwand ist richtig, können in einer hoch technisierten Armee nur einen sehr begrenzten Beitrag leisten. Doch eine Wehrpflicht hätte den unschätzbaren Vorteil, dass Menschen, die das sonst nie in Betracht gezogen hätten, sich viel eher für eine solche Spezialisten-Karriere entscheiden, wenn sie die Truppe erst von innen kennen. Gleichzeitig wäre für stetigen Nachschub an Reservisten gesorgt.
Junge Menschen sollten ein Pflichtjahr an der Waffe oder im Naturschutz ableisten
Ein simples Zurück zum alten Wehrdienstmodell darf es allerdings nicht geben. Zu reden wäre etwa über ein für Frauen wie Männer einheitliches Pflichtjahr, das wahlweise an der Waffe, in Krankenhäusern und Altenheimen, der Jugendarbeit oder im praktischen Klima- und Naturschutz abzuleisten ist. Denn in all diesen Feldern sind die Aufgaben groß. Wenn sich junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen eine Zeit lang gemeinsam in den Dienst der Gesellschaft stellen, würde das zudem deren Zusammenhalt fördern.
Ohne ein bestimmtes Maß an Zwang aber wird es nicht gehen, das macht das Thema in der Politik so unpopulär. Wer die Renaissance der Wehrpflicht fordert, riskiert die Gunst der Wähler. Wer die Debatte jedoch rundweg ablehnt, macht es sich zu einfach. Das Argument etwa, dass es älteren Generationen gar nicht zustehe, über die Lebenszeit der jüngeren Menschen zu verfügen, geht am Kern des Problems vorbei. Denn eine Gesellschaft zu werden, die dauerhaft ihre Sicherheit gewährleisten und ihre demokratischen Werte verteidigen kann, liegt im ureigensten Interesse gerade der jüngeren und künftigen Generationen.