Die Nato ist in einer Sinnkrise. Aber ist sie tatsächlich bereits „hirntot“, wie der französische Präsident Emmanuel Macron jetzt wenig charmant formulierte? Würde diese Diagnose zutreffen, dann hieße es, Abschied zu nehmen und die Verteidigungsallianz möglichst geordnet abzuwickeln.
Was die Nato in der Vergangenheit für Deutschland und Europa geleistet hat
Wie also steht es um die Nato, die 1949 als westliches Verteidigungsbündnis gegründet wurde? Nicht gut. Aber sie lebt, obwohl viele sie schon nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes im Jahre 1990/91 totgesagt hatten. Die Allianz ist ein Kind des Kalten Krieges. Der epische Ost-West-Konflikt mit seiner atomaren Dimension wirkte einigend. Erst in den hitzigen 70er und 80er Jahren begann die Akzeptanz der Bevölkerung Westeuropas für die Nato-Strategie zu bröckeln. Nicht wenige sahen in dem Bündnis ein imperialistisches und kriegslüsternes Monster. Doch wer nüchtern auf diese Zeit zurückblickt, wird zugeben müssen, dass die Konfrontation zwischen den Blöcken ohne den Schutz durch die Militärallianz für die westlichen Demokratien kaum zu bestehen gewesen wäre. Wer daran zweifelt, sollte sich anschauen wie es der DDR, Polen, Ungarn der CSSR und vielen anderen Staaten nach 1945 ergangen ist.
Schon in der Amtszeit von Präsident Barack Obama begann das Interesse der USA an Europa zu erkalten. Der Fokus verschob sich von Moskau in Richtung Peking – in China sieht Washington heute den großen Gegner. Donald Trump treibt diesen Prozess mit einer fatalen Mischung aus Brutalität und Unstetigkeit voran. Steht der US-Präsident, der auf „Deals“ zwischen einzelnen Staaten setzt, noch zur Nato? Macron bilanziert schonungslos, dass es „in keiner wichtigen strategischen Frage eine enge Abstimmung und Absprache zwischen den Europäern und den USA“ gebe. Tatsächlich sind der Syrien-Konflikt oder der Streit um den Atomvertrag mit dem Iran Beispiele dafür, dass das Konsens-Modell der Nato nicht funktioniert.
Doch an der europäischen Ostgrenze reagiert das Bündnis nach einigem Zögern entschlossen auf russische Provokationen. Europa gemeinsam mit den USA. Washington investiert Milliarden Dollar und schickt seine Soldaten, um Polen und den baltischen Staaten Rückendeckung zu geben. Ein überfälliges Signal – insbesondere nach der aggressiven Politik Moskaus im Ukraine-Konflikt. Wer den irrlichternden Präsidenten pauschal mit den USA gleichsetzt, liegt falsch. Es war der US-Kongress, der diese Linie durchsetzte – von Trump kam diese Initiative nicht.
NATO in der Krise: Jetzt sind die Mitglieder gefragt
Die Unterstellung, dass das Bündnis Russland systematisch einkreist und bedrängt, ist falsch – und trifft auf tiefes Unverständnis in Polen. Dort ist die Furcht vor Russland sehr präsent, gilt die Allianz als unverzichtbare militärische Lebensversicherung. Natürlich muss Europa mehr für die eigene Verteidigung tun. Wer aber glaubt, dass die EU-Staaten auf die Nato in absehbarer Zeit militärisch verzichten können, ist naiv.
Zu einer Gefahr für das Bündnis hat sich die Türkei von Präsident Recep Tayyip Erdogan entwickelt. Ankara verhöhnt nicht nur offen westliche Werte, sondern strapaziert mit militärischen Abenteuern in Nordsyrien auch die Geduld der übrigen 27 Nato-Staaten. Die Statuten sehen den Ausschluss eines Mitglieds nicht vor, er wäre im Falle der strategisch wichtigen Türkei auch kaum sinnvoll. Ärgerlich und gefährlich ist aber, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg darauf verzichtet, Ankara mit klaren Worten zur Ordnung zu rufen. Ein Kuschen vor Erdogan unterhöhlt die Basis der Allianz.
Macrons Bild ist verzerrt: Die Nato verfügt durchaus noch über Hirnfunktionen. Allerdings ist der Patient in einer depressiven Phase – etwas antriebsschwach, gleichzeitig aber auf der Suche nach einem Sinn, der alles zusammenhält. Die Mitglieder des Bündnisses sind am Zug, die bösen Geister zu vertreiben. Denn ohne Nato wird das internationale Gefüge weiter zerfallen. Mächtige Staaten wie China oder Russland können ihre Interessen dann noch rücksichtsloser durchsetzen. Für Europa muss dieses Szenario ein Antrieb sein, für die Zukunft der Allianz zu kämpfen.