Der legendäre Fernseh-Zampano Helmut Thoma bescherte Deutschland nicht nur unvergessene RTL-Klassiker wie „Tutti Frutti“, sondern auch Weisheiten wie: „Im Seichten kann man wenigstens nicht ertrinken.“ Der Satz war Programm – und der Privatsender schnell überaus erfolgreich.
Thoma hatte den gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF in den 80ern und 90ern den Kampf angesagt. Letztlich prägte er auch sie. Mit durchaus innovativer TV-Unterhaltung als Vorbild ebenso wie mit seiner Erfindung der „werberelevanten Zielgruppe“ der 14- bis 49-jährigen Zuschauer. Die Fixierung auf Einschaltquoten und Marktanteile kann man den Privaten nicht verübeln, wohl aber den Öffentlich-Rechtlichen, denen der von jedem Haushalt zu zahlende Rundfunkbeitrag Milliarden in die Kassen spült. Und die schon so oft und unbeholfen das Privatsender-Programm kopierten.
Doch es tut sich gerade einiges in der bundesdeutschen Fernsehwelt – und möglicherweise wird man im Rückblick von einer Zäsur sprechen: Die Privaten entdecken (Gesellschafts-)Politik und greifen damit ARD und ZDF in deren ureigenstem Metier an. Zugleich wollen sie familienfreundlicher sein und ihr Krawall-Image loswerden.
Die Öffentlich-Rechtlich-Werdung der Privatsender erscheint allenfalls auf den ersten Blick als überraschende und etwas irre Strategie. Denn sie folgt handfesten Erkenntnissen – und, na klar, ökonomischen Interessen. Welcher Werbetreibende will schließlich in einem Schmuddelumfeld werben?
Das lineare Fernsehen verliert unter Jüngeren teils dramatisch an Bedeutung
Die Strategie verspricht Erfolg vor dem Hintergrund einer zunehmend politisierten und polarisierten Gesellschaft, die vor einer Bundestagswahl steht, wie es sie so noch nicht gab. Nach 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft müssen sich die politischen Kräfteverhältnisse neu sortieren, und das in einer historischen Pandemiephase. Das spiegelt sich bereits in der Nachfrage nach relevanten Medieninhalten wider. Am Donnerstag jubelte RTL über „Jahres-Quoten-Bestwerte“ für seine Hauptnachrichtensendung „RTL Aktuell“. Und als die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf auf ProSieben sieben Stunden lang die komplette Schicht einer Krankenpflegerin zeigten, sorgte das nicht bloß für breite Aufmerksamkeit. Es war eine Ansage: Pflege ist nicht selbstverständlich.
Umwälzender noch ist diese Entwicklung: Das lineare Fernsehen – fester Programmablauf, TV-Gerät im Wohnzimmer – verliert unter Jüngeren je nach Erhebung teils dramatisch an Bedeutung. Die Privatsender reagieren darauf mit einer cleveren Doppelstrategie. Sie investieren in lineares Fernsehen und in ihre digitalen Angebote.
ProSieben setzt auf die sympathisch-seriöse Linda Zervakis
Die Jüngeren oder alle Fans von Serien – die in Corona-Zeiten auch zur Ablenkung vom Alltag massiv gestreamt werden – holen sie auf diese Weise im Netz ab, den Älteren geben sie gute Gründe zum Einschalten. Indem RTL verstärkt auf ältere öffentlich-rechtliche Stars wie Hape Kerkeling, Ex-„Tagesschau“-Chefsprecher Jan Hofer und Thomas Gottschalk setzt. Oder ProSieben auf die sympathisch-seriöse Linda Zervakis. Die hatte am 26. April ihren letzten Einsatz als ARD-„Tagesschau“-Sprecherin, jetzt interviewt sie am Mittwoch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz zur Hauptsendezeit. Zudem trennte sich RTL von Dieter Bohlen. Der passte mit seinen Pöbeleien bei „Deutschland sucht den Superstar“ schlicht nicht mehr zur angestrebten Image-Politur.
Mediennutzer können sich über diesen Kurs freuen, weil er auf ein insgesamt wertigeres Programm zuläuft; für ARD und ZDF bedeutet er eine abermalige Kampfansage. Sie sollten sie ernst nehmen.
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