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Kommentar: Alle gegen alle: In Israel regiert das Chaos

Kommentar

Alle gegen alle: In Israel regiert das Chaos

Rudi Wais
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    Benjamin Netanjahu: Ihm fehlen noch zwei Mandate, um in Israel weiterregieren zu können.
    Benjamin Netanjahu: Ihm fehlen noch zwei Mandate, um in Israel weiterregieren zu können. Foto: Noam Moskowitz, dpa

    Sharren Haskel ist gerade eine gefragte Frau in Israel. Im Dezember hat die 37-Jährige der Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Rücken gekehrt und sich der neuen Partei seines Rivalen Gideon Saar angeschlossen. Nun allerdings, da Netanjahu noch zwei Stimmen zu einer Regierungsmehrheit fehlen, wird sie geradezu angefleht, doch wieder zurückzukehren. Halbe Königreiche, spottet sie, habe man ihr dafür versprochen. Sie aber sagt: „Lasst es bleiben, ihr habt keine Chance.“

    Man muss die Abgeordnete Haskel nicht kennen außerhalb Israels, ihr Beispiel aber steht exemplarisch für das strategische Dilemma, in dem die Politik des Landes seit Jahren steckt. Weder das konservativ-religiöse Lager um Netanjahu noch die Opposition haben eine Mehrheit in der Knesset, in der 13 Parteien sitzen, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Um eine neue Regierung wird dort nicht gerungen, sondern geschachert. Sharren Haskel dürfte nicht die Einzige sein, der in den vergangenen Tagen attraktive Angebote für einen Seitenwechsel gemacht wurden – bis hin zu einem Platz im Kabinett.

    Netanjahu flirtet sogar mit einer islamischen Partei

    Weder Netanjahu noch Oppositionsführer Yair Lapid sind nach der vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren in der Lage, eine Koalition aus annähernd gleich gesinnten Parteien zu schmieden. Der Regierungschef flirtet jetzt sogar mit einer islamischen Liste, die in religiösen Fragen zwar so konservativ ist wie seine Partner aus dem orthodoxen Lager, die aber alle Siedler aus dem Westjordanland vertreiben und Jerusalem zwischen Juden und Arabern aufteilen will – unannehmbar, nicht nur für den Likud.

    Auf Platz zwei kam mit 18 Sitzen die Zukunftspartei des Oppositionsführers Jair Lapid, die in der politischen Mitte angesiedelt ist.
    Auf Platz zwei kam mit 18 Sitzen die Zukunftspartei des Oppositionsführers Jair Lapid, die in der politischen Mitte angesiedelt ist. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Lapid wiederum strebt ein Bündnis an, das nur eines eint: die Gegnerschaft zu Netanjahu. In ihm säßen, wenn sich denn eine Mehrheit fände, stramme Linke neben dem stramm konservativen Saar, aufmüpfige Araber und rechte Säkulare wie der frühere Verteidigungsminister Avigdor Lieberman an einem Regierungstisch. Undenkbar, dass eine dieser beiden Allianzen eine volle Legislaturperiode hält. Israel, die einzige Demokratie des Nahen Ostens, ist mit den Jahren schier unregierbar geworden und hat im Moment nicht einmal einen beschlossenen Staatshaushalt.

    Ministerpräsident Netanjahu steht unter Korruptionsverdacht

    Mit Netanjahu oder den Korruptionsvorwürfen gegen ihn hat das nur zum Teil zu tun. Sein Likud ist die einzige Partei, die mit Wahlergebnissen um die 25 Prozent auch nur annähernd noch den Anspruch an eine Volkspartei erfüllt. Der große Rest in der Knesset vertritt vor allem Partikularinteressen: die der Siedler, die der arabischen Minderheit, die der russischen Einwanderer oder die der orthodoxen Juden. Für das große, gemeinsame Ganze fühlt sich keine dieser Gruppen wirklich verantwortlich. Auch die stolze Arbeiterpartei Awoda, die Partei von Staatsgründer David Ben-Gurion, von Golda Meir, Schimon Peres und Jitzchak Rabin, ist mit mageren sieben Mandaten weit von ihrer alten Größe entfernt. Dazu kommen persönliche Animositäten zwischen den einzelnen Parteiführern und eine unterentwickelte Kompromissbereitschaft. Selbst ein Rückzug von Netanjahu würde daran nicht viel ändern – der Kampf um seine Nachfolge würde nicht weniger erbittert geführt als der gegen ihn.

    Nach dem vorläufigen Wahlergebnis bleibt der rechtskonservative Likud von Benjamin Netanjahu zwar stärkste Kraft. Das von ihm angestrebte Bündnis hat aber keine Mehrheit.
    Nach dem vorläufigen Wahlergebnis bleibt der rechtskonservative Likud von Benjamin Netanjahu zwar stärkste Kraft. Das von ihm angestrebte Bündnis hat aber keine Mehrheit. Foto: Noam Moskowitz, dpa

    Es ist paradox: Obwohl Israel technologisch zu den führenden Nationen der Welt zählt, obwohl es seine Bevölkerung schneller impft als jedes andere Land und mithilfe einiger arabischer Partner gerade eine neue Friedensordnung für den Nahen Osten zimmert, ist das politische System des Landes mit chaotisch noch freundlich umschrieben.

    Wählt Israel im Sommer schon wieder?

    Im Moment sieht es so aus, als nähmen Netanjahu und seine Gegner lieber einen fünften Wahlgang im Spätsommer in Kauf, als sich auf eine Art Koalition der nationalen Einheit zu einigen. In ihr könnte Netanjahu die erste Hälfte der Wahlperiode noch Ministerpräsident bleiben und dann an Lapid übergeben. In ihr säßen weder orthodoxe Juden noch eine islamische Partei, sondern der konservative Likud, der liberale Lapid, die „Neue Hoffnung“ des ehemaligen Likud-Mannes Gideon Saar und die Mitte-Rechts-Partei des früheren Generalstabschefs Benjamin Gantz. Zusammen kämen die vier auf genau die 61 Mandate, die eine Koalition in Israel zum Regieren benötigt.

    Dazu allerdings müssten die Parteivorsitzenden über ihre jeweiligen Schatten springen und alle persönlichen Antipathien außen vor lassen. Für diesen Dienst an ihrem Land jedoch sind ihre Egos offenbar zu groß.

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