Er war so etwas wie der Popstar der Politik. Nun balanciert der kanadische Premierminister Justin Trudeau über dem politischen Abgrund: Er taumelt dem Ende seiner Karriere entgegen. Zwei Misstrauensabstimmungen hat er in den vergangenen Wochen im Parlament zwar überstanden. Doch weitere werden folgen. Die unsicheren Mehrheitsverhältnisse haben das Zeug, jederzeit den Sturz der liberalen Regierung und Neuwahlen herbeizuführen. Auch in der eigenen Partei rumort es. Zunehmend werden Zweifel laut ausgesprochen, ob Trudeau die Liberalen überhaupt in die kommende Wahl führen soll.
Trudeau selbst gibt sich bisher entschlossen. Er fühle sich „jeden Tag verpflichtet daran zu arbeiten, ein besseres Kanada zu bauen“, betonte er. Mitglieder seines Kabinetts stützen ihn öffentlich. Immigrationsminister Marc Miller warnte die Trudeau-Kritiker, ihr Handeln sei ein „Schlafwandeln“ hinein in einen konservativen Sieg und die Amtsübernahme durch den konservativen Parteichef Pierre Poilievre. Denn seit etwa einem Jahr hängen Trudeau und die Liberalen in einem tiefen Umfrageloch, mit einem Rückstand bis zu 20 Prozent zu den Konservativen. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass den Liberalen derzeit bei einer Wahl eine dramatische Wahlniederlage drohen würde. In der Fraktion wächst die Sorge vieler Abgeordneter vor dem Verlust ihres Mandats. Diese Befürchtungen wurden verstärkt, als die Liberalen im Sommer bei Nachwahlen zwei Wahlkreise in Toronto und Montreal verloren, die als absolute Hochburg der Liberalen galten.
Widerstand kommt aus der eigenen Partei
Zu denen, die offen den Wechsel fordern, gehört der Abgeordnete Sean Casey von der Prince Edward-Insel. Er erhalte aus dem Volk „laut und klar“ die Botschaft, dass es Zeit für Trudeau sei „zu gehen, und ich stimme dem zu“. Die Menschen haben genug, sagte er dem Rundfunk CBC. „Sie hören ihm nicht mehr zu und wollen, dass er geht“. Die Abgeordnete Alexandra Mendes aus Montreal meint: „Es geht nicht um die liberale Partei als solche. Es geht wirklich um die Führung durch den Premierminister.“ Die Menschen in ihrem Wahlkreis seien sehr bestimmt: „Der Premierminister muss gehen.“ Drei Mitglieder der Fraktion erklärten am Mittwoch, dass mehr als 20 Parteikollegen einen Brief an Trudeau mit der Aufforderung zum Rückzug unterzeichnet hätten.
Trudeau ist in Kanada schon lange kein „Politstar“ mehr. Bereits wenige Jahre nach seinem Sieg im Jahr 2015 war sein Glanz erloschen. Die Wahlen 2019 und 2021 überstand er mit vielen Mühen. Seine Partei stellte zwar die stärkste Fraktion, hatte aber keine eigenständige Mehrheit. Inzwischen hat die Bevölkerung offenbar genug von dem 52-Jährigen, auch wenn seine liberale Politik mit der Ausweitung der Leistungen des Gesundheitswesens oder der Schaffung bezahlbarer Plätze in Kindertagesstätten durchaus Anhänger hat. Problematisch für die Partei ist, dass sie keinen echten Nachfolger für Trudeau hat. Zwar werden mehrere Namen genannt, doch keiner von ihnen hat das Zeug, den Konservativen den Rang abzulaufen.
Diese Fehler werfen die Konservativen Trudeau vor
Die seit einem Jahr von Pierre Poilievre geführten Konservativen können mit einer absoluten Mehrheit der Sitze rechnen. Sie machen Trudeau für das verantwortlich, was die kanadische Bevölkerung belastet: für die lange Zeit sehr hohe Inflationsrate mit hohen Zinsen, für die Wohnungsknappheit und die exorbitanten Immobilienpreise, für gewaltige Probleme im Gesundheitswesen und für eine aus ihrer Sicht zu lasche Kriminalpolitik. Vor allem aber bietet die Kohlendioxid-Steuer ein großes Angriffsfeld. „Axe the Tax“, schafft die Steuer ab, lautet der konservative Schlachtruf. Selbst als im Westen Kanadas der Nationalpark Jasper brannte, wurde die Kampagne gegen diesen wichtigen Teil der Klimapolitik Trudeaus nicht gestoppt. Norbert Eschborn, Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung, schreibt in einem Länderporträt: „Über die vergangenen Monate hinweg ist die Wahrnehmung ,Kanada ist kaputt‘ (,Canada is broken‘) von einem Kampagnenslogan der Conservative Party of Canada (CPC) zu einer in weiten Bevölkerungskreisen akzeptierten Wahrheit geworden. In Umfragen aus Anlass des Nationalfeiertages Canada Day am 1. Juli stimmten 70 Prozent der Befragten dieser These zu, darunter fast 80 Prozent der 18-34-Jährigen.“
Im Parlament kann jede Abstimmung über ein wichtiges Gesetz, das den Charakter eines Vertrauensvotums hat, zum Sturz der Regierung führen. Das nutzen die beiden kleineren Oppositionsparteien: Der Vorsitzende des nur in Quebec antretenden Bloc Quebecois, Yves-Francois Blanchet, fordert von den Liberalen die Verabschiedung von zwei Gesetzen: Eines soll die Landwirtschaft schützen, das zweite soll die Rente deutlich erhöhen. Sind die Gesetze bis zum 29. Oktober nicht verabschiedet, werde der Bloc für ein Misstrauensvotum und Neuwahlen noch in diesem Jahr stimmen.
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