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Irreguläre Migration: Das Dublin-System wird zum Sprengsatz für Europa

Irreguläre Migration

Das Dublin-System wird zum Sprengsatz für Europa

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    Ab Montag sollen an der deutschen Westgrenze vermehrt Kontrollen durchgeführt werden.
    Ab Montag sollen an der deutschen Westgrenze vermehrt Kontrollen durchgeführt werden. Foto: Patrick Pleul, dpa

    Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz an diesem Sonntag zu einer Reise nach Usbekistan aufbricht, wird ihn ein Thema nicht loslassen: die Migration. Nach dem Messer-Attentat von Solingen und den Erfolgen der rechten AfD bei den Ost-Wahlen ist die Debatte heiß gelaufen. Gute Nachrichten sind dringend nötig und die könnte die Kanzlerreise tatsächlich bieten. Denn, auch wenn aus Usbekistan selbst nur wenige Flüchtlinge nach Deutschland reisen, so kommt dem zentralasiatischen Land doch eine entscheidende Rolle zu: Hierhin könnten afghanische Flüchtlinge abgeschoben werden – zumindest so lange, wie die Bundesregierung selbst nicht mit den Taliban verhandeln will. Es ist ein Baustein in einem komplexen System. Doch für Scholz dürfte es so etwas wie ein Lichtblick sein. Denn während die Usbeken zu einer Vereinbarung bereit sind, dominiert in der EU der nationale Egoismus. Die Sekundärmigration, also jene Bewegung von Geflüchteten innerhalb der europäischen Grenzen, wird für Deutschland zu einem echten Problem.

    Die sogenannte Dublin-Verordnung regelt das Prozedere eigentlich ganz genau: Demnach sollen Asylbewerber dort registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten. Das entsprechende Land ist auch für den Asylantrag zuständig. Reist ein Flüchtling illegal weiter und stellt seinen Antrag in einem anderen Staat, kann er in das Land der ersten Einreise zurückgeschickt werden. Soweit die Theorie. Die Praxis ist ernüchternder: Allein im ersten Halbjahr 2024 versuchte Deutschland 36.795 Geflüchtete zurückzuführen in jene europäischen Mitgliedstaaten, in denen sie zuerst Asyl beantragt hatten. Den 36.795 Rücknahmeersuchen stehen aber nur 3043 tatsächlich durchgeführte Überstellungen gegenüber, die Erfolgsquote liegt also bei noch nicht einmal 10 Prozent. Italien etwa nimmt aktuell gar keine Dublin-Flüchtlinge zurück. Nicht viel anders sieht es mit Griechenland aus. Die Zahlen stammen aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linkspartei.

    Das Dublin-System gilt als dysfunktional

    Als dysfunktional wird „Dublin“ beschrieben, als Synonym des Scheiterns, geboren als politischer Kompromiss, geendet als Papiertiger. „Was das Dublin-System nie erreichen wird, ist, dass es zu einer fairen Verteilung von Asylantragstellern in der EU kommt“, sagt der Politikwissenschaftler Gerald Knaus. Die EU habe sich auf ein Verfahren geeinigt, das so offensichtlich nicht im Interesse vieler Mitgliedsstaaten sei, dass es nie wirklich umgesetzt wurde. „Es gibt bei den meisten EU-Staaten auch kein Interesse, dass das Dublin-Verfahren besser funktioniert, als dies aktuell der Fall ist“, sagt der Experte. „Das ist nicht verwunderlich. Wenn es wie vorgesehen funktionieren würde, hätte Deutschland kaum Asylbewerber – und Griechenland und Italien die meisten. Das wäre absurd.“ So entsteht das umgekehrte Dublin-Paradox: Eigentlich sollten die meisten Flüchtlinge sich in jenen Ländern aufhalten, die eine europäische Außengrenze haben. Tatsächlich aber werden die meisten Asylanträge in Deutschland gestellt. 329.035 waren es im Jahr 2023.

    Die Probleme mit der Rückführung in andere EU-Länder sind das eine. Ein anderes Phänomen kommt dazu: Selbst die Menschen, bei denen es Deutschland gelingt, sie an ein anderes Land zu überstellen, kommen in großer Zahl wieder zurück. „Zum Stichtag 29. Februar 2024 waren 14.885 aufhältige Personen im Ausländerzentralregister registriert, die bereits einmal an einen anderen Mitgliedstaat überstellt wurden“, schreibt der Bundestag. Überraschend ist das nicht: „In einem grenzenlosen Schengen-Raum gibt es nur sehr begrenzte Möglichkeiten, Leute festzuhalten“, sagt Knaus. „Was wir brauchen, ist ein europäisches System, das auch eine Chance hat, umgesetzt zu werden.“ Nur, wenn die jeweiligen Länder von dessen Sinn überzeugt seien, würden sie Bereitschaft zur Kooperation zeigen. „Wo diese Bereitschaft fehlt, funktioniert auch die Politik nicht“, sagt der Experte.

    Schon jetzt finden Zurückweisungen an den Grenzen statt

    In der Bundesregierung versucht man es mit einer Strategie der neuen Härte: Ab dem kommenden Montag wird es stichprobenartig Kontrollen an den Landgrenzen zu Frankreich, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg geben, an den Grenzen zu Österreich Polen, Tschechien und der Schweiz gab es schon bislang welche. Zurückweisungen finden hier bereits statt, dann, wenn die Kontrollierten keine gültigen Dokumente dabeihaben oder keinen Asylantrag stellen. Seit vergangenem Oktober sind laut Bundesinnenministerium so mehr als 30.000 Menschen zurückgewiesen worden. Der Union reicht das nicht, sie pocht auf umfassende Zurückweisungen, auch von Asylsuchenden. Nach Ansicht des Migrationsexperten Knaus wäre das in vielfacher Hinsicht ein riskantes Unterfangen. „Wenn Deutschland sagt, es will mehr Asylsuchende abweisen, können wir davon ausgehen, dass andere Länder noch weniger Menschen als schon bisher registrieren werden“, glaubt Knaus. „Das würde dazu führen, dass das gesamte System zusammenbricht und die deutsche Politik ihr Ziel, nämlich weniger Asylbewerber, erst recht nicht erreicht.“

    Auch juristisch ist es mindestens heikel. „Beim Thema Zurückweisungen an den Grenzen waren die Urteile des Europäischen Gerichtshofes bislang sehr klar“, sagt Knaus mit Blick auf die aufgeheizte Debatte. „Wer an der Grenze einen Asylantrag stellt, hat das Recht auf ein Verfahren.“ Wer dieses aussetzen wolle, müsse den Notstand ausrufen. Das hatte jüngst unter anderem CDU-Chef Friedrich Merz gefordert. Doch Knaus warnt: Wer das vorhabe, müsse damit rechnen, schnell vom Europäischen Gerichtshof zurückgepfiffen zu werden. „Dieser wacht darüber, dass nicht jedes EU-Land EU-Recht, das ihm gerade nicht gefällt, dadurch aushebelt, dass es eine Notlage erklärt“, sagt Knaus.

    Wird Deutschland wirklich europäisches Recht brechen?

    Selbst auf dem Höhepunkt der Migrationskrise hätten weder Deutschland noch Österreich diesen Schritt unternommen. Inzwischen bewegen sich die Asylzahlen auf einem niedrigeren Niveau. Zum Vergleich: 2016 stellten 722.370 Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland, 2023 waren es rund 329.000, im ersten Halbjahr 2024 waren es 121.416. Die Zahl der Abschiebungen und Rückführungen ist aktuell um ein Fünftel höher als im letzten Jahr. „Deutschland würde auch nicht einfach EU-Recht ignorieren, so wie das die PiS-Partei in Polen getan hat oder heute Viktor Orban in Ungarn“, hofft Knaus. „Denn damit sprengt man den Zusammenhalt der Europäischen Union.“ Letztlich gehe es dann um die politische Frage, ob Deutschland als größtes und wichtigstes EU-Mitglied bereit sei, europäische Gesetze und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu ignorieren.

    Aber auch innenpolitisch sei der Schritt mehr als heikel. „Wenn ein Land den Notstand ausruft, muss es seine Grenze mit allen Mitteln schließen“, sagt Knaus. Stichprobenartige Kontrollen, wie Innenministerin Faeser sie angeordnet habe, würden dann kaum mehr ausreichen. „Dann müsste man Zäune bauen, die Bundespolizei aufrüsten, Grenzübergänge schließen – es wäre eine massive Abwendung von Schengen, einem der großen historischen EU-Projekte unserer Zeit“, sagt der Experte. „Und wenn das nicht genügt, würde die AfD kommen und einen Schutzwall um Deutschland fordern, als logische Konsequenz eines Notstandes. Die Parteien der Mitte bewegen sich auf dünnem Eis.“

    Ziel müsse es sein, die irreguläre Migration in die EU insgesamt zu reduzieren, viel weniger Asylsuchende irregulär in den Schengenraum kommen zu lassen und dafür reguläre und geordnete Migration zu ermöglichen. Wie das gehen könne, habe die EU-Türkei-Einigung 2016, zu deren Architekten Knaus gehört, gezeigt. Die habe die Zahl der Ankommenden nach dem März 2016 binnen kurzem drastisch reduziert. Weil aber seit dem Frühjahr 2020 die Kooperation zwischen Brüssel und Ankara nicht mehr funktioniere, seien auch die Zahlen der in Deutschland Ankommenden wieder deutlich angestiegen. „Die entscheidende Frage ist: Was passiert außerhalb der EU?“, sagt Knaus. Für ihn ist klar: Es müssten Abkommen mit anderen sicheren Staaten geschlossen werden, in die Asylverfahren ausgelagert werden könnten. Bislang stellt sich die Ampel-Regierung gegen mehr sogenannte Sichere-Drittstaaten-Regelungen. „Fast alle anderen Staaten in der EU sind dafür“, sagt der Experte.

    Das sagt Innenministerin Faeser zur Asyl-Debatte

    Bundesinnenministerin Nancy Faeser setzt hingegen auf das reformierte europäische Asylsystem, auf das sich die Mitgliedsstaaten im Frühjahr nach langem Ringen geeinigt hatten. Der Pakt setzt auf Abschreckung und Abschottung, kommt aber voraussichtlich erst in zwei Jahren zur Anwendung. „Der entscheidende Schritt nach vorn ist, dass wir nach Jahren der tiefen Spaltung der EU ein neues gemeinsames Asylsystem vereinbart haben“, sagt die Ministerin unserer Redaktion. Die europäischen Gesetze seien beschlossen, das deutsche Recht würde bis Ende dieses Jahres angepasst. „Das ist die dringend benötigte Reform des europäischen Rechts, die das heutige – vielfach nicht funktionierende – System ablöst“, sagt Faeser. „Damit werden endlich die Außengrenzen der EU umfassend geschützt und die Verantwortung für Geflüchtete in Europa fairer verteilt. So entlasten wir unsere Kommunen dauerhaft.“ Asylverfahren für Menschen mit geringer Aussicht auf Schutz würden dann schon an den EU-Außengrenzen geführt und so die Migration insgesamt gebremst.

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    3 Kommentare
    Esther Ern

    Eine Koalitionsaussage seitens Merz wird seit langem erwartet, um bei künftigen Wahlen entscheiden zu können, welche der konservativen Parteien man wählen will. CDU mit Grünen wird wenig favorisiert nach der Erfahrung mit Grünen derzeit im Bunde. CDU/Union gegenüber werden sie sich nicht anders verhalten.

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    Maria Reichenauer

    Im Gegensatz zu der CDU, die Merz haben möchte, haben die Grünen wenigstens noch einen Funken Anstand im Leib, wenn sie nicht jedem menschenverachtenden Geschwätz nachgeben. Wenn es mit der SPD nicht reicht, bin gespannt, was Merz dann machen will. Wenn er klug ist, dann wird er sich nicht festlegen, wenn er unbeherrscht ist wie Söder und die Grünen von vornherein ausschließt, ja sogar verteufelt, könnte er am Schluss mit leeren Händen dastehen – die AfD würde jubeln, die Demokratie würde schweren Schaden nehmen.

    Jochen Hoeflein

    Vielleicht steht auch noch die BSW zur Verfügung um die Blütenträume der grünen Elite endgültig zu erden. Es geht nicht an, dass an der Grenze ein illegaler Migrant das das Wort Asyl auszusprechen braucht und in der Folge bis auf Weiteres von Steuergeld alimentiert werden muss einschl. hilfreicher Rechtberater. Deu sollte sich vielleicht ein Beispiel an der US Border Control an der Grenze Texas- Mexico nehmen.

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