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Interview: Zentralrat der Juden: "Man sagt Israel - und meint die Juden"

Interview

Zentralrat der Juden: "Man sagt Israel - und meint die Juden"

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    Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster.
    Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

    Herr Schuster. Sind Ihre Freunde und Verwandten in Israel alle wohlauf?

    Josef Schuster: Ein Cousin und eine Cousine von mir leben mit ihren Familien in Israel. Ihnen geht es Gott sei Dank gut, Sie wohnen allerdings im Norden des Landes, wo auch ich geboren wurde - und der ist von den Angriffen zum Glück weitgehend verschont geblieben.

    Sobald der israelisch-palästinensische Konflikt aufflammt, treibt das auch die Menschen in Deutschland auf die Straße - Freunde wie Feinde Israels. Wie sehr überraschen Sie antisemitische Ausschreitungen wie jetzt in Berlin oder Gelsenkirchen noch?

    Schuster: Ehrlich gesagt hat mich das nicht überrascht. Erinnern Sie sich an das Jahr 2014: Da hatten wir eine ganz ähnliche Situation in Deutschland. Natürlich darf in einer Demokratie jeder demonstrieren und seine Meinung frei äußern, das gilt auch für pro-palästinensische Demonstrationen. Was aber nicht geht: Dass in solchen Demonstrationen antisemitische Parolen skandiert oder gar Steine auf Synagogen geworfen werden. Die in Deutschland lebenden Juden, die zum weitaus größten Teil auch deutsche Staatsbürger sind, haben mit dem Nahostkonflikt nichts zu tun.

    Wo ziehen Sie denn die Grenze zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus?

    Schuster: Kritik an der Regierungspolitik des Staates Israel ist völlig legitim - so wie es in Deutschland völlig legitim ist, Entscheidungen der Bundesregierung zu kritisieren. Wer dem Staat Israel allerdings sein Existenzrecht abspricht oder zum Boykott Israels aufruft, überschreitet eine Grenze. Hier wird es dann schnell antisemitisch: man sagt Israel - und meint die Juden.

    Sie haben nach den jüngsten Ausschreitungen ein konsequenteres Einschreiten der Polizei gefordert. Ist unsere Polizei zu lasch?

    Schuster: Lasch ist vielleicht das falsche Adjektiv. Fakt ist aber, dass sie Ihren Aufgaben nicht immer gerecht wird. In Gelsenkirchen konnte verhindert werden, dass die Demonstranten bis zur Synagoge vordringen, da hat die Polizei einen guten Job gemacht. Wenn Demonstranten aber antisemitische Parolen brüllen oder zu Gewalt gegen Juden aufrufen, erwarte ich von der Polizei, dass sie dann auch durchgreift, dass sie ermittelt, die Täter benennt und das zur Anzeige bringt. Nur so kann die Justiz auch Strafen verhängen

    Sind jüdische Einrichtungen in Deutschland gut genug geschützt?

    Schuster: Nach dem Attentat von Halle im Oktober 2019 wurden alle Schutzmaßnahmen noch einmal überprüft und angepasst. Bei besonderen Lagen muss es allerdings auch möglich sein, diesen Schutz noch zu verstärken. Bei uns in Würzburg, zum Beispiel, bewacht die Polizei das jüdische Gemeindezentrum bei Gottesdiensten oder Veranstaltungen. Entsprechend erweitert muss der Polizeischutz auch werden, wenn irgendwo eine anti-israelische Demonstration angemeldet wird.

    Chronologie: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern

    Seit Gründung des Staates Israel kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Nachbarn. Der erste Nahostkrieg war für Israel ein Unabhängigkeitskrieg - für die Palästinenser hingegen der Beginn der "Nakba", ihrer Flucht und Vertreibung.

    29. November 1947: Die Vollversammlung der Vereinten Nationen ruft zur Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat auf (Resolution 181). Die Juden stimmen zu, die Araber in Palästina und die arabischen Staaten lehnen den Plan ab.

    14. Mai 1948: David Ben Gurion verliest Israels Unabhängigkeitserklärung. Am Tag darauf erklären die arabischen Nachbarn Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien den Krieg. Im Kampf kann der neue Staat sein Territorium vergrößern und den Westteil Jerusalems erobern. Rund 700.000 Palästinenser fliehen.

    Oktober 1956: In der Suez-Krise kämpfen israelische Truppen an der Seite Frankreichs und Großbritanniens um die Kontrolle des Suez-Kanals, den Ägypten zuvor verstaatlicht hatte.

    Juni 1967: Im Sechstagekrieg erobert Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, das Westjordanland, Ostjerusalem und die Golanhöhen.

    Oktober 1973: Eine Allianz arabischer Staaten unter Führung von Ägypten und Syrien überfällt Israel an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Nur unter schweren Verlusten gelingt es Israel, den Angriff abzuwehren.

    März 1979: Israels Regierungschef Menachem Begin und Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat schließen einen von den USA vermittelten Friedensvertrag.

    Juni 1982: Beginn der Operation "Frieden für Galiläa". Israel greift Stellungen der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO im Libanon an und marschiert ins Nachbarland ein.

    Dezember 1987: Ausbruch des ersten Palästinenseraufstands ("Intifada").

    September 1993: Israels Ministerpräsident Izchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat unterzeichnen die Oslo-Friedensverträge.

    4. November 1995: Rabin wird nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem jüdischen Fanatiker erschossen.

    September 2000: Nach einem Besuch von Israels damaligem Oppositionsführer Ariel Scharon auf dem Tempelberg in Jerusalem bricht die zweite Intifada aus.

    2003: Israel beginnt mit dem Bau einer 750 Kilometer langen Sperranlage rund ums Westjordanland. Zäune und Mauern verlaufen zum Teil auf palästinensischem Gebiet.

    August 2005: Gegen den Widerstand der Siedler räumt Israel alle Siedlungen im Gazastreifen und zieht seine Truppen aus dem Palästinensergebiet am Mittelmeer ab.

    Juli 2006: Israel und die libanesische Hisbollah-Miliz liefern sich einen einmonatigen Krieg.

    Juni 2007: Die radikal-islamische Hamas vertreibt in einem blutigen Machtkampf unter Palästinensern die Fatah von Mahmud Abbas aus dem Gazastreifen.

    Jahreswende 2008/2009 bis August 2014: In drei Konflikten bekriegen sich das israelische Militär und die Hamas im Gaza-Streifen. Kurz vor dem Krieg 2014 scheitert der bisher letzte Versuch der beiden Seiten, am Verhandlungstisch einen Frieden zu vereinbaren.

    Dezember 2017: US-Präsident Donald Trump verkündet den Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Die Entscheidung stößt international auf heftige Kritik.

    Frühjahr 2018: Am Grenzzaun zwischen Israel und Gazastreifen beginnen wochenlange Demonstrationen von Palästinensern für das Recht auf Rückkehr ins Gebiet des heutigen Israels. Mehr als 100 werden von der Armee erschossen. Die USA eröffnen ihre Botschaft in Jerusalem.

    Januar 2020: Trump und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu präsentieren einen Nahost-Friedensplan. Die Palästinenser sehen das Völkerrecht verletzt.

    Mai 2021: In Jerusalem kommt es zu schweren Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern. Aus dem Gazastreifen werden Raketen auf Israel abgefeuert, das mit Luftangriffen reagiert. Dabei werden in Gaza mehrere Palästinenser getötet. (dpa)

    Auch im Internet sind Juden übelsten Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt - „Schade, dass Hitler Euch nicht komplett ausgerottet hat“ ist nur eine von vielen, die der Zentralrat gerade öffentlich gemacht hat. Wie gehen Sie dagegen vor?

    Schuster: Was wir hier veröffentlicht haben, waren Hasskommentare auf unseren Accounts in den sozialen Medien. Den Zentralrat der Juden als Institution allerdings, so argumentieren die Gerichte, kann man nicht beleidigen. Beleidigen kann man nur eine bestimmte Person, die dann einen Strafantrag stellen kann. Auch unter den Tatbestand der Volksverhetzung fallen solche Kommentare oder auch Zuschriften an den Zentralrat nicht. Hier besteht eine Gesetzeslücke, die allerdings jetzt geschlossen werden soll. Das Kabinett hat gerade einen Gesetzentwurf verabschiedet, wonach verhetzende Beleidigungen dieser Art als neuer Straftatbestand definiert werden. Für uns wäre das ein großer Fortschritt.

    In den vergangenen Monaten hat sich eine seltsame Allianz aus Rechtspopulisten, Corona-Leugnern und Impfgegnern gebildet. Wie tief sitzt der Antisemitismus in diesem Milieu?

    Schuster: Diese so genannten Querdenker sind von Rechtsextremisten und -populisten unterwandert, auch Politiker der AfD bekennen sich ganz offen dazu. Und da steigen dann auch noch Impfgegner, Esoteriker und christliche Fundamentalisten mit ins Boot. Der gemeinsame Feind, das Böse, wenn Sie so wollen, sind in diesen Kreisen schnell die Juden,. Diese neuen Allianzen beobachte ich mit großer Sorge.

    In Deutschland wird Antisemitismus vor allem unter der Rubrik „rechtsextrem“ verbucht. Wie gefährlich ist der Antisemitismus von links und aus dem muslimischen Lager?

    Schuster: Den Großteil der antisemitischen Straftaten können wir dem rechtsextremen Bereich zuordnen. Offiziell sind das etwa 90 Prozent, dazu aber muss man wissen, dass Straftaten, bei denen die Täterschaft unklar ist, automatisch in die Kategorie „rechts“ fallen - insofern ist diese Zahl mit Vorsicht zu genießen. Der von Ihnen erwähnte Antisemitismus von links artikuliert sich vor allem als israelbezogener Antisemitismus und findet sich auch in der Mitte der Gesellschaft.. Wie stark der Antisemitismus von muslimischer Seite ist, haben wir bei den jüngsten Demonstrationen alle selbst gesehen. Ich scheue mich jedoch, dafür die Migrationskrise 2015/2016 verantwortlich zu machen. Solche Demonstrationen und Krawalle haben wir auch schon früher gesehen.

    An den jüngsten Ausschreitungen waren viele Libanesen, Iraker oder Syrer beteiligt. Haben wir diesen Antisemitismus nicht doch selbst importiert?

    Schuster: Ich behaupte nicht, dass es unter den Zugewanderten keinen Hass auf uns Juden gibt. Viele dieser Menschen haben den Antisemitismus quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Ich glaube nur nicht, dass der muslimische Antisemitismus durch die Migration nach Deutschland stark zugenommen hat.

    Bayerns Innenminister Joachim Herrmann will Ausländer mit „fanatischer Intoleranz“ schneller abschieben. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

    Schuster: Wenn unser rechtliches Instrumentarium das erlaubt, dann wäre das ein starkes Signal an alle Extremisten. Je empfindlicher die Strafen sind und je konsequenter Straftaten verfolgt werden, umso abschreckender wirkt das auch.

    Brauchen wir auch härtere Strafen?

    Schuster: Ja - auch wenn die Bundesregierung das Strafrecht bei Antisemitismus erst gerade verschärft hat. Die größeren Defizite aber sehe ich bei der Justiz, die auf dem rechten Auge doch eine gewisse Sehschwäche hat. Zum Kampf gegen den Antisemitismus gehören immer mindestens zwei: ein entschlossener Gesetzgeber und eine Justiz, die dieses Recht auch entschlossen umsetzt. Bei uns in Unterfranken, das nur als Beispiel, hat ein Redner bei einer Anti-Corona-Demonstration vor kurzem die Maßnahmen der Bundesregierung mit dem Vorgehen der Nationalsozialisten gegen Juden gleichgesetzt. Das wurde auch zur Anzeige gebracht, die Anzeige aber wurde von der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt. Sie war der Meinung, dass der Mann nicht den Holocaust relativiert hat, was strafbar gewesen wäre, sondern dass er nur von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat. Diese Logik verstört mich sehr, das klingt ja, als sei die heutige Situation tatsächlich mit dem Holocaust vergleichbar.

    Angela Merkel hat Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärt. Viele Israelis aber haben das Gefühl, dass der deutschen Politik ein gutes Auskommen mit dem Iran heute wichtiger ist. Erodiert da gerade etwas?

    Schuster: Die deutsche Iran-Politik irritiert auch mich. Hier stehen ganz klar wirtschaftliche Gründe im Vordergrund. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung hier zu einem differenzierteren Urteil kommt und dem Iran gegenüber deutlicher wird. Hinter den Angriffen der Hamas auf Israel steckt letztlich ja niemand anderer als der Iran.

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