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Interview: Warum findet die Welt keinen Frieden, Herr Masala?

Interview

Warum findet die Welt keinen Frieden, Herr Masala?

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    Carlo Masala ist Professor für internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München.
    Carlo Masala ist Professor für internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München. Foto: Frank Hörmann, Imago Images

    Herr Masala, der Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr. Warum findet die Ukraine keinen Frieden?
    CARLO MASALA: Die Ukraine findet keinen Frieden, weil Russland noch immer glaubt, diesen Krieg gewinnen zu können. Die Bedingungen, die Russland diktieren will, um den Krieg zu beenden, sind für die Ukraine völlig inakzeptabel: Der Westen soll seine Waffenlieferungen einstellen und die Ukraine soll hinnehmen, dass 20 Prozent ihres Territoriums dauerhaft verloren sind und an Russland übergehen. Das geht nicht. 

    Kann der russische Präsident Wladimir Putin sich diese Haltung leisten, weil die Zeit letztlich tatsächlich für ihn spielt? 
    MASALA: Wladimir Putin hat gute Karten, das kann man anders gar nicht sagen. Seine Strategie, dass der „Westen“ irgendwann ermattet ist, dass demokratische Gesellschaften solche Konflikte nicht lange durchhalten. Er scheint Recht zu behalten. Zwar stemmt sich Bundeskanzler Olaf Scholz dagegen und will keine Schwäche zeigen – aber das wird zunehmend schwieriger. Uns erreichen Berichte inzwischen von der Front, dass es den Ukrainern sogar an Munition mangelt und sie deshalb nicht in der Lage sind, die russischen Truppen zurückzudrängen.

    Bezieht Putin die US-Wahl in seine Kriegsplanung mit ein?
    MASALA: Davon müssen wir ausgehen. Aus diesem Grund glaube ich auch nicht, dass vor den US-Wahlen im November Bewegung in diesen Krieg kommen wird. Russland wird von seiner Maximalposition vorerst nicht abrücken. 

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj arbeitet an einem 10-Punkte-Plan für den Frieden. Russland ist bislang allerdings nicht involviert. Wie ordnen Sie das ein?
    MASALA: In Davos fand kürzlich bereits das vierte Treffen der Friedensinitiative statt – und die Staaten, die daran teilnehmen, werden immer mehr. Das ist eine positive Entwicklung. Auch, wenn sich aktuell nicht alle Punkte des Friedensplanes realisieren lassen, sind es doch Details, auf die sich die teilnehmenden Länder verständigen. Es wird also nicht nur das große Ganze diskutiert, sondern man nimmt in Arbeitsgruppen einzelne Bereiche in den Blick. Damit ist das die einzige Initiative, die momentan überhaupt etwas in Bewegung bringen kann. 

    Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht? Vielleicht sogar Hoffnung auf ein Ende des Krieges?
    MASALA: Für das Jahr 2024 sehe ich kein Ende für diesen Krieg. Da gibt es nichts, was uns Hoffnung geben könnte. Wir sehen jedoch – aber auch da bin ich zurückhaltend –, dass der Krieg immer stärker nach Russland hineingetragen wird. Das hat zur Folge, dass dort ein zartes Pflänzchen des Widerstandes innerhalb der Bevölkerung wächst. Allein die Tatsache, dass in Moskau viele Heizungen ausfallen und die Menschen frieren müssen, weil das Geld in den Krieg fließt, führt dazu, dass zumindest ein Teil der Russen anfängt, am Sinn dieser Kämpfe zu zweifeln. Das ist etwas, was wir in den vergangenen zwei Jahren nicht gesehen haben. Putin war sehr geschickt darin, diesen Krieg von der russischen Mehrheitsgesellschaft fernzuhalten.

    Auch die Kriegsmüdigkeit des Westens wächst. Wird das Drängen auf Zugeständnisse an Russland unter diesen Voraussetzungen lauter werden?
    MASALA: Ich sehe aktuell keinen Druck in diese Richtung auf Selenskyj. Es lässt sich eher der Versuch beobachten, Wege zu suchen, die Ukraine zu unterstützen trotz der schwierigen Bedingungen, die sich inzwischen in vielen europäischen Staaten auftun. Und das hat gute Gründe. Für die Staaten, die die Ukraine unterstützen, steht schließlich neben deren territorialen Integrität noch etwas anderes im Vordergrund: Wenn man es Russland erlaubt, sich dauerhaft 20 Prozent des ukrainischen Territoriums zuzuschlagen, akzeptiert man einen eklatanten Bruch des Völkerrechtes. Das könnte ein Signal an die ganze Welt senden, dass sich Angriffskriege wieder lohnen. 

    In der Ukraine selbst hört man immer wieder: Ihr wollt zwar nicht, dass wir den Krieg verlieren – aber dass wir gegen Russland gewinnen, das wollt ihr doch auch nicht. Hält sich der Westen ein Hintertürchen offen in Richtung Moskau?
    MASALA: Diese Einschätzung ist keineswegs abwegig. Wenn wir uns die vergangenen zwei Jahre anschauen, dann sind viele Akteure – und allen voran die USA und Deutschland – mit zwei Sachen aufgefallen: Zum einen haben sie Waffen immer nur sehr dosiert und sehr spät geliefert. Das führte zu dem Eindruck, dass man zwar alles dafür tut, dass sich die Ukraine verteidigen kann, man aber nicht so weit gehen will, dass es entscheidende Schläge gegen die russische Armee gibt. Zum zweiten gibt es die Überzeugung, dass Russland als geografisches Faktum und als Nuklearmacht nicht verschwinden wird. Der Westen versucht also, Moskau in ein Post-Konflikt-Szenario einzubeziehen. 

    Bedeutet das auch, dass der Westen den Krieg durch seine Zögerlichkeit in gewisser Weise verlängert?
    MASALA: Der Westen verlängert den Krieg – aber das geschieht in zwei Richtungen. Zum einen hat er den Krieg verlängert, indem er die Ukraine in die Lage versetzt hat, sich selbst zu verteidigen. Allerdings hat er dieses Engagement nie so weit vorangetrieben, dass die Ukraine in der Lage war, die russische Logik zu durchbrechen, die noch immer davon ausgeht, in diesem Krieg mehr gewinnen als verlieren zu können. Auch das verlängert den Krieg. Der Westen verlängert den Krieg also in einer positiven und in einer negativen Hinsicht zugleich.

    Gerade scheint die Lage an allen Ecken der Welt zu eskalieren. Sind diese Konflikte ein Zeichen für eine tieferliegende Entwicklung?
    MASALA: Wir sehen eindeutig, dass die Anzahl der Konflikte zugenommen hat. Und was wir noch sehen, ist, dass diese Konflikte miteinander verbunden sind. Es gibt ein Ringen um die Weltordnung. Das bedeutet nicht, dass jemand im Hintergrund alle Fäden zieht. Aber ein Beispiel: Wir sehen, dass das Bemühen Deutschlands und der USA, die Staaten des globalen Südens mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Seite des Westens zu ziehen, jetzt konterkariert wird durch die Haltung, die Deutschland und die USA mit Blick auf den Krieg Israels gegen die Hamas einnehmen. Da rücken Staaten wie Südafrika oder Brasilien von uns ab – für sie ist das die typische westliche Doppelmoral. Was wir noch sehen, ist ein massives Austesten der Robustheit und Belastbarkeit der liberalen Weltordnung.

    Ist das neu?
    MASALA: Den Konflikt um die Weltordnung gibt es schon seit etwa zehn Jahren. Aber wir treten jetzt in eine Phase ein, in der er immer massiver und teilweise auch militärisch ausgetragen wird. Sind die USA in der Lage, in zwei Konflikten gleichzeitig zu bestehen und ihre ordnende Rolle auszuüben? Wir sehen durchaus, dass die amerikanische Abschreckung mit Blick auf anti-israelische Staaten und Gruppen im Nahen und Mittleren Osten nicht mehr so gut funktioniert. 

    Wie robust ist der Westen im Ringen um diese Weltordnung aufgestellt?
    MASALA: Das ist schwer zu beantworten, weil wir gerade mitten in diesem Konflikt stecken. Aber wir sehen schon eine Veränderung. Als der Iran jüngst Raketen auf den Flughafen in Erbil, Irak, abgefeuert hat, haben die Vereinigten Staaten relativ zurückhaltend reagiert. Vor einem oder zwei Jahren wäre das noch anders gewesen. Wir hätten ganz sicher eine Reaktion der USA auf diesen Beschuss erlebt. Heute ist Washington zögerlicher. Diese Zögerlichkeit ist zum einen sehr klug, weil so verhindert wird, dass der Konflikt im Nahen Osten eskaliert und zu einem Flächenbrand wird. Zum anderen aber wird die Zögerlichkeit von einigen Akteuren als ein Zeichen der Schwäche erkannt. Der Westen steckt also in einem Dilemma, in einer Zwickmühle. 

    Krieg als Instrument der Politik – warum gehört das nicht längst der Vergangenheit an? Immerhin sind die Kosten, die dafür bezahlt werden, auch für den Angreifer hoch.
    MASALA: Die Kosten sind hoch. In Russland wird gerade eine halbe Generation verheizt, die auch der Volkswirtschaft fehlen wird. Trotzdem gibt es Situationen – ob wir es nachvollziehen können oder nicht –, in denen Akteure ein so großes politisches Interesse haben, ihre Ziele durchzusetzen, dass sie trotz der immensen Kosten, die Kriege verursachen, den Einsatz von Streitkräften als ein adäquates Mittel ansehen. Sie sind bereit, irre Kosten zu tragen. 

    Im Fall Russlands konnten noch nicht einmal die wechselseitigen ökonomischen Beziehungen vor einem Krieg schützen. Naiv gefragt: Dürfte es theoretisch diesen Krieg gar nicht geben, weil er irrational ist?
    MASALA: Putins Großmachtstreben steht über allem, es ist der entscheidende Faktor. Leider verkennen wir das oft. Auch China wäre bereit, unglaubliche Kosten zu tragen, um Taiwan wieder ins Mutterland zu integrieren. Macht das Sinn? Natürlich nicht. Aber das politische und historische Interesse übersteigt alles. 

    Heißt das im Umkehrschluss, dass es kein politisches Mittel gibt, um Kriege zu verhindern?
    MASALA: Wir können versuchen, Kriege zu verhindern, es gibt durchaus Strategien. Die werden ja auch seit Jahrhunderten angewandt. Aber wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass man alle Konflikte löst, da geraten wir an unsere Grenzen. Es wird Situationen geben, in denen einer den Krieg schlicht und einfach will. Und er wird ihn dann auch führen. 

    Welche Strategien gibt es, um die Gefahr zumindest zu minimieren?
    MASALA: Eine Strategie ist es, die Kosten in die Höhe zu treiben. Denn Kriege werden häufig dann angefangen, wenn ein Akteur glaubt, er kann ihn relativ schnell und billig für sich entscheiden. Das hat wie gesagt dort seine Grenzen, wo das politische Interesse größer ist. Eine andere Strategie ist es, sich durch wechselseitige ökonomische Verflechtungen aneinander zu binden. Auch hier ist es dann wieder eine Kostenfrage. Und dann ist da noch das Völkerrecht. Das versucht schon lange, den Krieg als Mittel der Politik zu verbannen. Aber auch das hat seine Grenzen. Wir könnten das noch weiter durchdeklinieren, es gibt viele Strategien. Und sie alle helfen – aber es gibt keine Garantie.

    Deutschland ist zumindest mental seit zwei Jahren im Krieg. Erkennen Sie einen Mentalitätswandel? 
    MASALA: Wir haben seit der Zeitenwende Maßnahmen ergriffen, Deutschland besser vor den Gefahren schützen zu können. Wir sehen, dass im Verteidigungsministerium mit Hochdruck daran gearbeitet wird, die 100 Milliarden Euro auszugeben, um die Bundeswehr auszurüsten. Was wir aber heute nicht mehr haben, ist das Bewusstsein der Bevölkerung, in welcher Lage wir uns befinden, wie sich die Welt geändert hat. Das hat etwas damit zu tun, dass sich der Krieg in der Ukraine in den Osten und in den Süden verlagert hat. Damit ist er inzwischen ganz weit weg von uns. In den ersten zwei oder drei Monaten des Krieges haben Politikerinnen und Politiker fast unisono ein Bild bemüht: Eineinhalb Flugstunden von hier findet ein Krieg statt. Damals mussten wir noch befürchten, dass die Russen Kiew einnehmen und irgendwann im Baltikum stehen. Die unmittelbare Bedrohung für uns scheint vorüber. Damit hat die Bereitschaft der Deutschen, mehr für die eigene Sicherheit und Verteidigung zu tun, nachgelassen. Andere Themen sind wieder wichtiger geworden. 

    Sind wir mental abwehrbereit?
    MASALA: Nein, wir sind mental nicht abwehrbereit. Wir haben noch immer nicht begriffen, was eine echte Zeitenwende bedeuten würde. Nämlich, auch als Gesellschaft resilienter zu werden. 

    Wie könnte man das vorantreiben? Mehr als immer wieder die Zusammenhänge zu erklären, kann die Politik ja auch nicht leisten.
    MASALA: Genau dieses Erklären fehlt eben. Aber es stimmt: Die Gesellschaft kann nur resilient werden, wenn die Menschen das auch wollen. An dem Punkt sind wir heute nicht. Wir müssen erkennen: Der russische Panzer ist für uns in Deutschland gar nicht das größte Problem. Cyberattacken, Desinformation, Finanzierung extremistischer Parteien, Versuche, die Gesellschaft zu spalten – das sind aktuell die eigentlichen Gefahren. Wir brauchen so etwas wie eine Gesamtverteidigungsstrategie. Aber davor scheut auch die Politik zurück. Denn es würde bedeuten, mehr Geld in die Hand zu nehmen. 

    Wie ist die Rolle des Kanzlers in diesem Zusammenhang?
    MASALA: Olaf Scholz ist ein Kanzler, der in diesen Fragen noch immer zu wenig kommuniziert. Seine Botschaft lautet: Vertrauen Sie mir. Doch eigentlich müsste sie heißen: Wir brauchen euch. 

    Zur Person

    Carlo Masala, 54, ist Professor für internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesakademie für Sicherheitspolitik sowie des Nato Defence College. Der ausgewiesene Militärexperte ist zu einer der wichtigsten öffentlichen Stimmen geworden, wenn es darum geht, die aktuelle geopolitische Lage einzuschätzen. Zuletzt ist sein Buch erschienen: "Warum die Welt keinen Frieden findet" (Brandstätter-Verlag). 

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