Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: „Viele Ostdeutsche haben kein Vertrauen in den Staat und seine Institutionen“

Interview

„Viele Ostdeutsche haben kein Vertrauen in den Staat und seine Institutionen“

    • |
    • |
    Sechs Wahlplakate von CDU, AfD und Linkspartei und ein Werbeplakat umhüllen einen Laternenmast am Stadtrand von Döbeln. Am 1. September wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt.
    Sechs Wahlplakate von CDU, AfD und Linkspartei und ein Werbeplakat umhüllen einen Laternenmast am Stadtrand von Döbeln. Am 1. September wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Foto: Hendrik Schmidt, dpa

    Herr Muno, die Aufregung vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ist groß. Aus Ihrer Sicht zurecht? Immerhin geht es nur um zwei Bundesländer.
    WOLFGANG MUNO: Einerseits geht es tatsächlich nur um Wahlen in zwei Bundesländern, die noch nicht einmal besonders groß sind. Sachsen hat gerade einmal vier Millionen Einwohner, Thüringen ist etwas größer als Hamburg. Die Wahl wird auch nicht für große Verschiebungen im Bundesrat sorgen. Andererseits ist die Signalwirkung, die von diesen Wahlen ausgeht, sehr groß. Denn die Ergebnisse werden anders sein, als wir das von allen bisherigen Landtagswahlen kennen. Wir müssen davon ausgehen, dass die AfD in Thüringen, wahrscheinlich in Brandenburg, vielleicht sogar in Sachsen die stärkste Partei wird. Hinzu kommt das Bündnis Sahra Wagenknecht, das ebenfalls stark abschneiden wird. Beide Parteien sind problematisch für die Demokratie.

    In Umfragen kommt die AfD in Thüringen auf 30 Prozent, das BSW auf 19 Prozent – das wären fast 50 Prozent der Stimmen für populistische Parteien. Ein unglaublicher Wert! Warum kommen diese beiden Parteien im Osten besonders gut an?
    MUNO: Der Osten hat sich anders entwickelt, als viele das angenommen haben. Es gibt nach wie vor keine wirkliche Bindung an die Parteien, wie wir das im Westen kennen, wo viele Menschen traditionell SPD oder traditionell CDU wählen. Im Osten ist die Zahl der Wechselwähler sehr groß. In Mecklenburg-Vorpommern hat die SPD gerade einmal 3000 Mitglieder – obwohl die Sozialdemokraten seit 25 Jahren die Landesregierung anführen. Die Grünen haben sogar nur 1000 Mitglieder. Außerdem zeigen uns Umfragen immer wieder, dass eine erstaunlich große Zahl an Menschen die pluralistische Demokratie ablehnt, das muss man ganz klar so sagen. Viele Ostdeutsche haben kein Vertrauen in den Staat und seine Institutionen.

    Wolfgang Muno ist Politikwissenschaftler an der Universität Rostock.
    Wolfgang Muno ist Politikwissenschaftler an der Universität Rostock. Foto: Jens Büttner, dpa

    Haben nicht gerade die Ostdeutschen für Demokratie gekämpft?
    MUNO: Diejenigen, die 1989 für Demokratie gekämpft haben, gehörten zu einer kleinen Minderheit. Die friedliche Revolution wurde von wenigen Menschen vorangetrieben, die setzen sich auch heute noch für Demokratie ein. Aber der Großteil der Bevölkerung hat zugeschaut und abgewartet. Viele davon waren weniger an Demokratie als vielmehr an Mercedes und Persil interessiert, wie der Historiker Kowalczuk jüngst treffend formulierte. Daraus hat sich ein etwas schizophrenes Verhältnis zum Staat entwickelt. Man erwartet auf der einen Seite von der Regierung, dass sie alle Probleme löst, genau wie früher: Von der Wiege bis zur Bahre soll der Staat ein Rundum-Sorglos-Paket anbieten. Auf der anderen Seite misstraut man den Entscheidungen des Staates ganz massiv, weil man über Jahrzehnte in der DDR erlebt hat, wie verheerend staatliches Handeln sein kann. Auch die Ablehnung der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen spielt eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass die Menschen in Ostdeutschland gesehen haben, wie man einen Staat durch eine Revolution niederringen kann. Erst hieß es, Merkel muss weg, jetzt heißt es, die Ampel muss weg.

    Aber auch AfD und BSW haben keine echten Lösungen.
    MUNO: AfD und BSW sagen genau wie die Menschen: Die da oben sind schuld. Dadurch entsteht der Eindruck, dass diese Parteien für den Volkswillen einstehen. Leider neigt die Politik insgesamt dazu, Erwartungen zu wecken, die sie gar nicht erfüllen kann. Die SPD hat einmal höhere Löhne versprochen – wir haben in Deutschland aber eine Tarifautonomie.

    Bleibt der enorme Zuspruch für populistische Parteien ein ostdeutsches Phänomen? Oder ist das, was wir hier sehen, nur ein Vorgeschmack auf das, was auch im Westen bevorsteht?
    MUNO: Populistische Parteien haben in vielen europäischen Ländern großen Zulauf. Das geschieht überall dort, wo Menschen sich abgehängt und nicht respektiert fühlen. Das gibt es in Westdeutschland natürlich auch, aber längst nicht in dem Ausmaß wie im Osten. Im Westen kommt die AfD auf zehn, vielleicht 15 Prozent. Das BSW käme in keinem westdeutschen Bundesland über die Fünf-Prozent-Hürde, vielleicht mit Ausnahme des Saarlandes. Das hat Gründe. Die Ausländerfeindlichkeit etwa, das zeigen Studien, ist im Osten stärker verbreitet als im Westen – übrigens mit einer Ausnahme: Bayern. Und das BSW hat im Grunde das alte SED-Programm wieder aufgelegt: geschlossene Grenzen, Sozialpolitik für das eigene Volk, eine homogene Bevölkerung ohne Ausländer, Hinwendung nach Russland. Das fällt offenbar auf fruchtbaren Boden.

    Wie können nach so langer Zeit die Unterschiede zwischen Ost und West noch so groß sein?
    MUNO: Wir haben zu stark auf den Faktor Zeit gesetzt und geglaubt, dass sich der Osten und der Westen von allein angleichen. Was wir unterschätzt haben, ist, wie sehr Familie, aber auch die Schulen die Mentalität weitergegeben haben. Es wurde versäumt, aktiv den Unterbau für die Demokratie zu schaffen, eine Zivilgesellschaft zu formen. Nicht nur die Bindung an Parteien ist schwächer, sondern auch das Engagement in sogenannten Vorfeldorganisationen, also Kirche, Menschenrechtsgruppen, Umweltorganisationen und so weiter. Übrigens zeigen Erhebungen, dass gerade die Anhänger von AfD und BSW sich am wenigsten für das Gemeinwohl engagieren!

    Sollte die AfD wirklich in zwei oder gar drei Ländern stärkste Kraft werden, was heißt das für den Umgang mit ihr? Ist es nicht ein schwieriges demokratisches Zeichen, wenn man die AfD nur noch einhegen kann, indem man ihr den Posten des Ministerpräsidenten verwehrt?
    MUNO: Der Umgang mit der AfD wird immer schwieriger werden. Schon nach Kommunalwahlen sehen wir, dass die vielbeschworene Brandmauer nach rechts nicht mehr existiert. AfD-Vertreter werden reihenweise auf verantwortungsvolle Positionen in Kommunalparlamente gewählt. Das Argument ist, dass man den Wählerwillen respektiert. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass die AfD und ihre rechtsextremen Positionen salonfähig werden. Die Menschen, die im Kommunalen für die AfD kandidieren, sind vielleicht nicht alle rechtsextrem, aber sie treten für eine rechtsextreme Partei an. Auch in den Bundesländern haben die Diskussionen schon begonnen, ob man nicht doch in einzelnen Punkten mit der AfD kooperiert. Und das vor dem Hintergrund, dass sich die AfD immer weiter radikalisiert und gemäßigte Stimmen dort kaum noch zu finden sind.

    Eine der schwierigsten Aufgaben nach den Landtagswahlen wird die Bildung von Regierungskoalitionen sein. Abenteuerliche Konstellationen sind im Gespräch – die CDU mit dem BSW, wie soll das gehen?
    MUNO: Die CDU hat sich da in eine schwierige Lage manövriert. Sie schließt eine Zusammenarbeit mit der Linken aus, mit dem BSW hingegen nicht. Tatsache ist aber: Das BSW besteht aus den radikalen Kräften, die aus der Linken ausgetreten sind. Mit den Radikalen will die CDU also zusammenarbeiten, mit dem pragmatischen Rest aber nicht?

    Was heißt das alles für das deutsche Parteiensystem?
    MUNO: Das Ergebnis der Landtagswahlen wird das deutsche Parteiensystem durcheinanderwirbeln und eine Signalwirkung haben. Etablierte Parteien wie die FDP oder auch die Grünen könnten aus den Parlamenten herausfallen, die extremen Parteien werden erfolgreich sein, ganz neue unbekannte Koalitionen werden notwendig sein. Es war schon in der Vergangenheit ganz häufig so, dass in den Bundesländern ausgetestet wurde, was später auch im Bund Anwendung fand. In Hessen gab es in den 80er Jahren eine rot-grüne Koalition unter Ministerpräsident Holger Börner, später gab es eine rot-grüne Bundesregierung. In Baden-Württemberg wurde eine Koalition aus Grünen und CDU ausprobiert, auch das könnte irgendwann auf Bundesebene umgesetzt werden. In Rheinland-Pfalz regiert sehr erfolgreich eine Ampel-Regierung, das war für die Koalitionsbildung auf Bundesebene ein wichtiges Argument.

    Zur Person

    Prof. Dr. Wolfgang Muno ist Politikwissenschaftler und hat den Lehrstuhl für vergleichende Regierungslehre an der Universität Rostock inne.

    Diskutieren Sie mit
    1 Kommentar
    Viktoria Reissler

    Falsch! Auch sehr viele Westdeutsche haben seit den Zwangsmaßnahmen gegen Gegner der Corona-Gen-Impfstoff-Impfung kein Vertrauen mehr in den Staat...........................

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden