Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: Verheugen über EU-Gipfel: "Auftritt der Geizhälse war erschreckend"

Interview

Verheugen über EU-Gipfel: "Auftritt der Geizhälse war erschreckend"

    • |
    Der langjährige EU-Kommissar Günter Verheugen weist die Kritik von FDP-Chef Christian Lindner an Kanzlerin Angela Merkel als „niederträchtig“ zurück.
    Der langjährige EU-Kommissar Günter Verheugen weist die Kritik von FDP-Chef Christian Lindner an Kanzlerin Angela Merkel als „niederträchtig“ zurück. Foto: Jens Wolf

    Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat im EU-Parlament den Haushaltsentwurf des Gipfels als Chance bezeichnet. Ist er das wirklich?

    Verheugen: Eine Chance ist er bestimmt, aber eben nicht viel mehr. Es ging ja vorrangig darum, in dieser Krise Handlungsfähigkeit und Solidarität zu beweisen. Das ist auch ein wichtiges politisches Signal. Aber man muss leider feststellen, dass die Gräben nach dem Gipfel genauso tief sind wie vorher. Es wird noch viel Hauen und Stechen geben. Die Bösartigkeiten, die wir zwischen einzelnen Mitgliedstaaten erleben, werden noch zunehmen.

    Die „Frugal Five“, die sogenannten Sparsamen Fünf, konnten den Gipfel ja beliebig bestimmen. Haben sich die Gewichte innerhalb der Union verschoben?

    Verheugen: Nicht wirklich. Der Auftritt der Geizhälse war schon erschreckend. Es ist leider nicht ganz neu, dass sich wohlhabende Staaten zusammenrotten, um eigene und eigensüchtige Interessen durchzusetzen. Denen war das europäische Gemeinwohl vollkommen egal.

    FDP-Chef Christian Lindner hat den niederländischen Regierungschef sogar gelobt, weil er für Deutschland mehr erreicht hätte als Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Ist das so?

    Verheugen: Dieser Satz hat mich erschüttert, weil er niederträchtig und anti-europäisch ist. Herr Lindner hat erkennbar nicht verstanden, worin die europäische Idee besteht. Es geht in der EU nicht darum, für sich möglichst viel herauszuholen, sondern zu begreifen, dass den eigenen Interessen am besten gedient ist, wenn wir eine einige, starke und solidarische EU haben. Das gilt an erster Stelle für Deutschland, weil wir am meisten von einer funktionierenden Gemeinschaft abhängig sind. Mit den Niederlanden ist das ähnlich, sie sind ein Hauptnutznießer der wirtschaftlichen Integration. Die Regierung in Den Haag sollte darauf achten, dass sie nicht den Ast absägt, auf dem sie sitzt.

    Hat die deutsch-französische Achse an Gewicht eingebüßt?

    Verheugen: Das sehe ich nicht. Unterm Strich haben Deutschland und Frankreich gezeigt, dass sie in der Lage sind, der EU Impulse zu geben, um große Ziele zu setzen und – wenn sie sich einig sind – diese im Grundsatz auch zu erreichen. Es mag einigen nicht passen, wenn sich die beiden zentralen Staaten vorher absprechen. Aber die Erfahrung zeigt doch, dass es für die Gemeinschaft am besten ist, wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Tun sie das nicht, ist ein Scheitern immer programmiert.

    Sprechen wir doch mal über den Aufbau-Fonds. Das EU-Parlament befürchtet, dass die Gelder vor allem für nationale Projekte eingesetzt werden, die die Mitgliedstaaten ansonsten aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen.

    Verheugen: Ja, das befürchte ich auch. Und es wird noch eine Menge Streit über die Verwendung der Gelder geben. Das Parlament tut gut daran, die Defizite der Gipfelbeschlüsse aufzuzeigen, auch wenn ich damit rechne, dass man sich am Ende schnell einigen wird. Die Europa-Abgeordneten werden sich zuhause nicht sagen lassen wollen, dass sie mit ihrem Widerstand einen nationalen Zugewinn verhindert haben. Denn die Regierungen brauchen die Milliardenhilfen gegen die Krise dringend.

    Dennoch ist die Forderung der Parlamentarier nach mehr Rechtsstaatlichkeit als Kriterium für die Vergabe der Finanzmittel doch wohl richtig.

    Verheugen: Wir müssen ein absolutes Interesse daran haben, dass die gemeinsamen Werte und die demokratischen Grundlagen in der EU hochgehalten werden. Die Rechtsstaatlichkeit gehört unverzichtbar dazu. Die Frage bleibt aber, ob es sinnvoll war, diese Forderung zum Bestandteil von Haushalts-Verhandlungen zumachen, bei denen Einstimmigkeit notwendig ist. Das war mehr oder weniger ein politischer Schaukampf.

    Der Vertrag bestimmt doch die Regeln für ein Rechtsstaatsverfahren. Die Verfahren laufen seit Jahren, aber sie laufen doch ins Leere, weil beispielsweise Ungarn mit seinen Freunden die notwendige Einstimmigkeit verhindern kann.

    Verheugen: Das stimmt, aber darüber darf man sich nicht beklagen. Denn die Mitgliedstaaten wollten das so, als sie den Lissabonner Vertrag 2009 angenommen haben. Sie hätten ja eine andere Regelung treffen können. Jeder wusste damals und weiß heute, dass die derzeitige Regelung in der Praxis nicht funktionieren kann. Sie ist eine Drohung, aber auch nicht mehr.

    Bisher hat die EU nur einmal Sanktionen gegen ein Mitglied erlassen…

    Verheugen: … das war nicht die EU; sondern die Mitgliedstaaten im Jahr 2000, als in Österreich der konservative Wolfgang Schüssel eine Regierung mit der rechtsradikalen FPÖ bildete. Aber dieser Schuss ging nach hinten los. Weil diese Entscheidung die Europafeindlichkeit befeuerte und den Rechten genutzt hat. Bei diesem Thema ist große Sensibilität angebracht. Wir müssen auch sehen, dass die Polen und die Ungarn ihre Regierungen immer wieder wählen und sie offenbar unterstützen.

    Das EU-Parlament arbeitet wegen der Einschränkungen zum Schutz vor dem Coronavirus derzeit in einem stark eingeschränkten Modus. Der Tagungsort Straßburg liegt seit Monaten brach. Wäre das nicht ein guter Zeitpunkt, um den Wanderzirkus zu beenden?

    Verheugen: Für viele Nicht-Franzosen wäre das genau der richtige Zeitpunkt. Aber Straßburg ist als Sitz des EU-Parlamentes im Vertrag garantiert und das hatte damals gute Gründe. Wenn man daran etwas ändern will, muss auch Frankreich zustimmen.

    Zur Person: Günter Verheugen (76) begann seine politische Laufbahn in der FDP und trat später zur SPD über. 1999 ging Verheugen als EU-Kommissar für Erweiterungspolitik nach Brüssel. 2004 wurde er Vizepräsident und übernahm das Ressort Industriepolitik und Unternehmen (bis 2010). Derzeit ist Verheugen Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

    Das könnte Sie auch interessieren:

    • Warum das EU-Parlament gegen das Milliarden-Programm rebelliert
    • Die EU zahlt einen hohen Preis für die Einigung
    • EU-Sondergipfel: Am Ende gingen der Kanzlerin sogar die Blazer aus
    • Wie Europa seine Krisenkasse füllen möchte

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden