Herr Müller, nicht weit von uns wird dieser Tage emsig über die Regierungsbildung verhandelt. Was sagt der Chef der Verbraucherzentralen, ist mit den Grünen in der Regierung mehr Verbraucherschutz möglich?
Klaus Müller: Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher wünsche ich mir von allen Parteien eine Politik, die mehr Sicherheit gibt. Die stark darauf achtet, dass das Alltagsleben bezahlbar bleibt und dem Wunsch der Menschen entspricht, dass aktiv etwas gegen die Klimakrise getan wird. Die große Klammer dabei muss sein, dass Politik nicht über die Köpfe der Menschen hinweg gemacht wird, sondern sie einbezieht und ihnen Wahlfreiheit ermöglicht. Wir brauchen mehr Nachhaltigkeit bei unserer Mobilität, beim Bauen sowie bei Ernährung und Landwirtschaft.
Hm, Hunger muss bei uns aber niemand leiden.
Müller: Nein, aber schauen Sie doch nur mal auf die Fehlernährung von Kindern und die oft verwirrende Kennzeichnung von Lebensmitteln. Oder auf die Tierschutzstandards. Die Probleme sind doch allerorten sichtbar und die Menschen sind unruhig. Die nächste Bundesregierung muss deshalb den ländlichen Raum besonders im Blick behalten. Das Gute ist: Man muss hier nicht bei null anfangen. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat schon sehr gute Arbeit geleistet und über unterschiedlichste Interessengruppen hinweg einen breiten gesellschaftlichen Konsens geschaffen. Diese guten Vorarbeiten müssen in den Sondierungsgesprächen auf den Tisch. Ich habe ein wenig die Sorge, dass das hinten runterfällt.
Sie fordern als VZBV eine gute private Altersvorsorge. Eine DIW-Studie weist nach, dass den künftigen Rentnerinnen und Rentnern im Schnitt 700 Euro monatlich im Portemonnaie fehlen werden. Wie lässt sich diese Lücke am besten füllen?
Müller: Mit der alten Riester-Rente hat man nur der Versicherungswirtschaft ein Geschenk gemacht. Die war teuer, brachte zu wenig Rendite und am Ende landete zu wenig Geld im Portemonnaie der Menschen. Die Chance der nächsten Regierung besteht darin, von anderen Ländern zu lernen.
Sie meinen Schweden?
Müller: Schweden, ja. Wir sehen aber auch in Großbritannien, den USA oder Australien, dass andere Länder bessere Systeme für die private Altersvorsorge haben als wir. Wir brauchen ein öffentlich organisiertes Vorsorgeprodukt, das ohne hohe Kosten für Provisionen, Vertrieb oder Marketing auskommt und das auf die Stärken eines Aktienpakets setzt. Das führt dazu, dass die Menschen am Ende mehr Geld in der Tasche haben. Bei den einen heißt das Aktienrente, bei den anderen Bürgerfonds. Der Name ist mir völlig egal. Wichtig ist es auch, die gesetzliche Rente zu stärken, ergänzend brauchen wir einen echten Neustart bei der privaten Vorsorge.
Aber Aktienkurse können sich auch nach unten entwickeln, wir haben an den Börsen schon einige Abstürze erlebt. Dann ist das Geld weg, oder?
Müller: Achtung, hier geht es um lange Laufzeiten. Die Erfahrung zeigt, das ist durch Studien belegt, dass über eine Entwicklung von 35 oder 40 Jahren hinweg breit gestreute Investitionen in Aktien andere Anlageprodukte, insbesondere private Rentenversicherungen, bei der Rendite geschlagen haben. Und das ohne Abstriche bei der Sicherheit.
Steil nach oben gehen die Energiekosten. Da könnte es für viele Privathaushalte bei der nächsten Abrechnung für Gas und Strom eine böse Überraschung geben. Andere Länder greifen ihren Bürgerinnen und Bürgern finanziell unter die Arme. Sollte der deutsche Staat das auch tun?
Müller: Wenn es nicht ein sehr milder Winter werden sollte, werden die Rechnungen für das Heizen deutlich höher ausfallen als für den vergangenen Winter. Es drohen Energiepreise des Grauens. Die Gaslieferungen aus Russland sind begrenzt, gleichzeitig gibt es eine höhere Nachfrage aus Asien, und das alles vor dem Hintergrund eines unregulierten Marktes. Das führt aktuell zu Preissprüngen, die wir in dieser Intensität noch nicht gesehen haben. Uns rettet im Moment noch, dass viele Versorgungsunternehmen längerfristige Verträge haben, die Preissprünge schlagen also nicht sofort auf die privaten Haushalte durch.
Jetzt nicht, aber wohl spätestens im Frühjahr. Und dann?
Müller: Deutschland muss erstens unabhängiger von fossilen Energieträgern wie Gas, Öl und Kohle werden. Das muss die nächste Regierung dringend vorantreiben. Bis dahin müssen wir die Menschen in den Blick nehmen, für die hohe Energiekosten eine Überforderung sind. Die Regierung muss zweitens schnell Vorsorge dafür treffen, dass es nicht zu Gassperren kommt. Familien dürfen nicht im Winter im Kalten sitzen, weil sie die Heizkostenabrechnung nicht bezahlen können. Ein Steuerungsinstrument wäre da ein höheres Wohngeld. Drittens müssen die Gasspeicher noch bis zum Winter besser befüllt sein, als sie es mit rund zwei Dritteln jetzt sind.
Der nächste Preisschock könnte mit der CO2-Bepreisung drohen. Berechnungen sehen zum Beispiel Spritpreise von zwei Euro und darüber. Was ist da zu tun?
Müller: Jeder Euro, den wir durch den Emissionshandel beim Benzin den Menschen oben drauf tun, muss ihnen durch einen Klimascheck zurückgegeben werden. Österreich ist da ein gutes Beispiel. Die Regierung dort will als Ausgleich für die CO2-Bepreisung ab Sommer nächsten Jahres einen regionalen Klimabonus von 100 bis 200 Euro pro Person und Jahr finanzieren. Das ist bemerkenswert.
Bei der Mobilität ist Klimaschutz vielfach noch ein Luxusgut. Nicht viele Verbraucherinnen und Verbraucher können sich ein E-Auto leisten. E-Bikes sind teuer und kurzlebig, hat Ihr Verband Anfang des Jahres kritisiert. Wie kann die Mobilitätswende trotzdem gelingen?
Müller: Erstens braucht die Industrie klare, verlässliche Signale aus der Politik, damit sie ihre Produktion umstellen kann. Zweitens muss im Bereich E-Autos dringend ein verlässlicher Gebrauchtwagenmarkt entstehen. Das wiederum hat mit der Qualität der Batterien zu tun. Wir fordern, dass der Gesundheitszustand der Batterie standardisiert ausgelesen werden können muss. Dazu gehört aber auch, das Chaos an den Ladesäulen zu beenden. Wie bei den Kraftstoffen müssen die Preise für spontanes Laden an die Markttransparenzstelle übermittelt werden, damit Apps alle Preise aktuell anzeigen können.
Wie Deutschland die Energiewende plant
Konzept: Atom- und Kohlestrom raus, erneuerbare Energien rein: Deutschland will zugunsten von Klima und Umwelt den Versorgungsmix in den kommenden Jahren massiv verändern. Bekannt geworden ist das Thema unter dem Schlagwort Energiewende. Während fossile Brennstoffe wie Kohle, aber auch Gas und Öl den Treibhauseffekt verstärken oder Atomenergie ein Risiko für Umwelt und Gesundheit der Menschen darstellt, erhofft man sich von alternativen Energieträgern eine nachhaltige Versorgung mit Strom und Wärme.
Ausstieg: 2018 endete deshalb in Deutschland der Bergbau unter Tage, 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet werden, 2038 die verbliebenen Kohlekraftwerke. Ziel des Umweltbundesamtes ist es, dass Deutschland bis 2050 ausschließlich mit erneuerbaren Rohstoffen wie Wind- oder Sonnenenergie versorgt werden kann.
Kohlekompromiss: Im Januar 2020 hatte die Bundesregierung den Kohlekompromiss beschlossen, mit dem der Fahrplan für den Kohleausstieg festgelegt wird. Jährlich solle dabei Steinkohle-Leistung vom Netz gehen, Betreiber, die sich bis 2026 zurückziehen, erhalten dafür eine Entschädigung.
Aber der Elektroantrieb soll es sein? Es gibt ja beispielsweise noch den Wasserstoff.
Müller: Alle großen Autohersteller sagen, dass es nicht effizient ist, wenn man mehrgleisig fahren würde. Schon der Aufbau einer Elektro-Ladeinfrastruktur ist enorm teuer. Würde man da zweigleisig fahren, würde es ineffizient.
Die Musterfeststellungsklage wird am 1. November drei Jahre alt. Sie haben sich als Verband aktiv beteiligt, gerade weitere Verfahren eingereicht. Wie fällt Ihr Fazit bisher aus? Taugt die Klage als Instrument oder muss noch nachgebessert werden?
Müller: Die Idee, dass sich Menschen zusammentun und gemeinsam klagen, die ist richtig. Aber die gesetzliche Umsetzung war bisher halbherzig und viel zu bürokratisch. Die nächste Regierung muss nun den Vorgaben der EU folgen und die Möglichkeit schaffen, dass ein Verbraucherverband unmittelbar auf eine finanzielle Entschädigung der Verbraucher klagen kann. Die Musterfeststellungsklage muss außerdem deutlich einfacher werden. Da hängt noch viel zu viel Bürokratie dran.