Herr Gabriel, in welcher Welt werden wir am Tag nach der US-Wahl aufwachen?
Sigmar Gabriel: Ich gehöre ja nicht zu denen, die immer gleich den Untergang heraufbeschwören. Es wird schon noch die gleiche Welt sein, die aber ja bereits seit einiger Zeit in ziemlicher Unordnung ist. Die USA sehen sich schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, einerseits führende Wirtschafts- und Militärnation der Welt sein und zugleich die Rolle einer globalen Ordnungsmacht zu spielen. Sie wollen ihre Kraft auf den Wettbewerb mit China konzentrieren und nicht in alle möglichen anderen Konflikte verwickelt sein.
Und doch sind die USA der wichtigste Unterstützer der Ukraine...
Gabriel: Wir haben es Joe Biden als US-Präsidenten zu verdanken, dass die USA noch einmal an der Seite Europas einem gemeinsamen Gegner – Russland – entgegengetreten sind. Wäre Donald Trump Präsident gewesen, würde die russische Armee jetzt vermutlich an der polnischen Grenze stehen. Insofern werden die Wahlen in den USA diese Tendenz des Rückzugs aus der Rolle einer globalen Ordnungsmacht je nach Ausgang verlangsamen oder beschleunigen, aber nicht mehr prinzipiell umkehren. Nicht zuletzt deshalb, weil sich wachsende Teile der Welt auch nicht mehr von den USA oder Europa führen lassen wollen. Der Begriff des „globalen Südens“ ist etwas unscharf, aber er umfasst eben viele der Länder, deren gewachsenes Selbstbewusstsein die Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkrieges, die sich zum Beispiel im UN-Sicherheitsrat bis heute spiegelt, nicht mehr akzeptieren. Dort sitzen immer noch zwei Europäer als ständige Vertreter, aber kein afrikanisches, kein lateinamerikanisches Land und auch Indien nicht. Diese alte Weltordnung spiegelte das 20. Jahrhundert, aber nicht mehr das 21. Jahrhundert. Und da noch niemand eine Idee hat, wie denn die Weltordnung des 21. Jahrhunderts aussehen sollen, leben wir in einer Welt ohne Ordnung. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sind eine Folge davon.
Die Mehrheit der Deutschen hofft, dass Kamala Harris Präsidentin wird – verbunden mit der Vorstellung, dass dann alles bleiben kann, wie es ist.
Gabriel: Ein Trugschluss. Aber eines ist schon richtig: Mit Kamala Harris hätten wir es mit einer US-Präsidentin zu tun, die weiß, dass man Verbündete braucht. Früher waren Allianzen wie die Nato vor allem wichtig für uns. Heute aber sind sie auch wichtig für die USA selbst, weil auch die mächtigen Vereinigten Staaten die Welt allein nicht mehr in der Balance halten können. Allianzen zu bilden, war immer der entscheidende Machtmultiplikator der USA. Weder die alte Sowjetunion noch Russland oder China können das. Sie haben Abhängige, aber keine echten Alliierten. Dieses Potenzial würde Kamala Harris wie ihre Vorgänger nutzen und – je nachdem, wie stark wir zum Beispiel wirtschaftlich sind – auch respektieren.
Und Donald Trump?
Gabriel: Donald Trump hält das alles für Unsinn. Aus seiner Sicht sind die USA - und vor allem er als Person - so mächtig, dass er keine Alliierten braucht. Er will „Deals“ abschließen. Er denkt, dass die großen Jungs die Weltpolitik unter sich ausmachen, und der Rest muss dann eben folgen – das Recht des Stärkeren. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, wie wir Europäer denken. Bei uns haben die kleinen EU-Mitgliedsstaaten genauso viele Rechte wie die großen. Donald Trump hat in seiner ersten Amtszeit versucht, dieses Europa zu schwächen und er hat bereits damals Zweifel an der Nato gesät. Gerade das ist außerordentlich gefährlich.
Weil er damit die Entschlossenheit der Nato infrage stellt?
Gabriel: Es ist sind ja nicht nur Raketen oder Flugzeuge, die ein Bündnis wie die Nato stark machen, sondern die Gewissheit unseres potenziellen Gegners, dass die Partner zusammenhalten. Wenn ausgerechnet die USA Zweifel daran säen, wirkt das geradezu wie eine Einladung an Leute wie Wladimir Putin, uns mal zu testen. Wenn er als Sieger aus dem Ukraine-Krieg hervorginge, würde er bei nächster Gelegenheit den nächsten Konflikt vom Zaun brechen. Am Anfang immer am Rande der Nato, weil wir da immer besonders unentschieden sind. Aber danach vielleicht auch mal ein Test an einem Nato-Mitgliedsstaat wie Estland.
Als wir uns Anfang des Jahres über den US-Wahlkampf unterhalten haben, warnten Sie davor, kollektiv in Panik zu geraten, nur weil Trump ins Weiße Haus zurückkehren könnte. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um panisch zu werden?
Gabriel: Erstens halte ich die amerikanische Verfassung immer noch für stark genug, um auch Donald Trump Grenzen zu setzen. Ich gehöre nicht zu denen, die für den Fall seiner erneuten Wahl das Ende der amerikanischen Demokratie prophezeien. Aber was mich viel mehr ärgert, ist, dass wir Europäer und vor allem wir Deutschen auf das Weiße Haus starren, wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange. Wir sind nicht allein davon abhängig, wer Präsident der USA ist. Unsere Zukunft hängt vor allem von uns selbst ab: Je selbstbewusster wir sind, je leistungs- und innovationsfähiger unsere Wirtschaft und der europäische Binnenmarkt ist und natürlich auch, je stärker wir unsere eigene Verteidigungsfähigkeit wieder aufbauen, desto größer wird unser Gewicht als Europäer in der Welt sein – auch aus Sicht der USA. Und zwar ganz, egal ob Kamala Harris gewinnt oder Donald Trump. Die eigentliche Gefahr der US-Präsidentschaftswahl scheint mir eine andere zu sein.
Welche Gefahr ist das?
Gabriel: Die tiefe Spaltung in den Vereinigten Staaten wird nach den Wahlen weitergehen. In den USA sehen sich Republikaner und Demokraten schon lange nicht mehr als politische Wettbewerber, sondern als echte Feinde. Nicht wenige Anhänger einer Partei glauben fest daran, dass die Wahl der anderen Partei den Untergang des Landes herbeiführen werde. Wenn die Wahl knapp ausgeht, werden die Vereinigten Staaten lange mit sich selbst beschäftigt sein. Ich hoffe, dass es nicht wieder zu Gewalt kommt, wie damals beim Sturm auf das Capitol. Aber Turbulenzen im Inneren können dazu führen, dass die Amerikaner in der Außenpolitik ausfallen und sich die Weltordnung noch weiter auflöst.
Was bedeutet das für Europa?
Gabriel: Europa hat die Zeit nicht gut genutzt, um sich darauf vorzubereiten. Es geht ja nicht nur darum, dass wir uns verstärkt um unsere eigene Sicherheit und Verteidigung kümmern müssen. Es geht auch darum, unsere Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu machen. Je leistungsfähiger Deutschland und Europa ökonomisch sind, umso attraktiver werden sie als Partner für die USA und andere. Und umso größer wird unser Einfluss in der Welt von morgen sein.
Als Außenminister hatten Sie oft mit Gesprächspartnern zu tun, mit denen Sie nicht unbedingt auf ein Bier gehen würden. Wie schafft man es, die eigenen Befindlichkeiten auszublenden?
Gabriel: Sie müssen sich immer über die Rollenverteilung im Klaren sein. Sie begegnen sich ja nicht als Privatpersonen, die einander sympathisch oder unsympathisch finden mögen. Sondern Sie begegnen sich als Vertreter Ihres Staates und vertreten dessen Interessen. Und je weiter diese Interessen auseinanderliegen, desto schwieriger ist es, zu verstehen, warum der Gesprächspartner ganz anders darüber denkt als man selbst. Beide müssen den Willen haben, sich in die Schuhe des Gegenübers zu stellen, um zunächst einmal zu verstehen, warum der andere eigentlich bei der gleichen Frage zu völlig anderen Antworten kommt als man selbst. Erst wenn beide Gesprächspartner dazu bereit sind, sich intellektuell in die Lage des anderen zu versetzen, haben sie die Chance, die Räume für Kompromisse zu vermessen. Auf diese Weise hat Gustav Stresemann in der Weimarer Republik die Aussöhnung mit Frankreich erreicht und Willy Brandt in der Entspannungspolitik die Aussöhnung mit Polen.
Auch heute finden aber doch ständig Staatsbesuche und Gipfeltreffen statt?
Gabriel: Mir scheint es aber so zu sein, dass die Bereitschaft und vielleicht auch die Fähigkeit nachgelassen haben, sich der Mühe zu unterziehen, den Gesprächspartner verstehen zu wollen. Jeder hält dem anderen nur die eigene Meinung und die eigene Moral vor. Darin sind wir Deutschen derzeit Weltmeister. Wir vergessen nur, dass man mit dem moralischen Zeigefinger allein nicht weit kommt. Man bedient damit meist nur das heimische Publikum und kann sich auf die Schulter klopfen, wie standhaft man wieder mal war. Zum Besseren verändert hat man damit in der Regel nichts.
Es gibt ja auch eine zwischenmenschliche Ebene. Wurden Sie mal von einem Gesprächspartner überrascht, der sich ganz anders verhalten hat als erwartet?
Gabriel: Ja, natürlich gibt es solche Überraschungen. Sie müssen immer aufpassen, ob das nicht ein Trick ist, wenn jemand ausgesprochen freundlich, fast schon kumpelhaft mit Ihnen umgeht. Wladimir Putin war so jemand, der das exzellent beherrschte. Oder auch Boris Johnson. Der Mann ist ja wirklich ein politischer Zocker, einer, der ständig Grenzen austestet. Es hat trotzdem immer Spaß gemacht, sich mit Boris zu treffen. Sie durften nur nie vergessen, dass sich hinter seinem Humor immer ein klares Interesse verbarg, das meist entgegen zu unserem Interesse lag.
Welche Chancen hat Diplomatie heute, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?
Gabriel: Es wird in Deutschland ja so getan, als gäbe es überhaupt keine diplomatischen Versuche. Das ist Quatsch. Natürlich gibt es die, und natürlich finden auch von amerikanischer Seite solche Gespräche statt, aber logischerweise nicht auf dem Marktplatz und nicht auf oberster Ebene. Da beginnen Verhandlungen nie. Es geht darum, immer wieder Kanäle zu öffnen und Chancen auszuloten. Das Problem sind nicht fehlende Gespräche, sondern die sich völlig unvereinbar gegenüberstehenden Ansichten: Bei möglichen Verhandlungen geht es gerade nicht – wie viele in Deutschland glauben – um den Tausch Land gegen Frieden. Also Russland bekommt den Teil der ukrainischen Gebiete, die es heute besetzt hält, und dann endet der Krieg. Gerade darum geht es nicht. Sondern es geht um den Tausch Land gegen Sicherheit. Wenn die Ukraine eine Situation akzeptieren soll, bei der zwar nicht im völkerrechtlichen Sinn, wohl aber ganz praktisch, der östliche Teil ihres Landes von Russland kontrolliert wird, dann will sie Sicherheitsgarantien haben, dass Russland nicht nach ein paar Jahren erneut versucht, sich die ganze Ukraine einzuverleiben oder dem Rest der Ukraine das Leben so schwer macht, dass ein Überleben als souveränes Land unmöglich wird. Die größte Sicherheitsgarantie dafür wäre ein Beitritt der Ukraine zur Nato. Genau das aber will Russland auf keinen Fall. Wo liegt also der Schlüssel für die Sicherheitsgarantie der Ukraine? Solange der nicht gefunden ist, wird der Krieg weitergehen.
Donald Trump hat gesagt, er würde den Krieg in wenigen Tagen beenden...
Gabriel: Das eigentliche Problem ist, dass er dies zu Lasten der Ukraine tun würde. Und er versteht nicht – wie viele Deutsche es ja auch nicht verstehen - dass ein Gewinn Russlands auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch Europa nicht in eine neue Nachkriegszeit bringen würde, sondern in eine Vorkriegszeit. Wenn Russland einmal gelernt hat, dass es mit Erfolg mittels Waffengewalt Grenzen verschieben kann, wird es das wieder tun. Europa würde zurückgeworfen ins 20. Jahrhundert, wo Krieg Mittel der Politik war. Deshalb darf die Ukraine Russland nicht „zum Fraß“ vorgeworfen werden. Die Ukraine verteidigt sich heute selbst, aber eben auch die friedliche Zukunft Europas. Russland kämpft nicht gegen die Ukraine, sondern es sieht sich selbst in einem Krieg gegen den aus seiner Sicht dekadenten Westen. Und das ist keineswegs nur Wladimir Putins Weltsicht. Nur Stärke schützt uns vor dieser revisionistischen Weltsicht.
In Deutschland werden Rufe nach Gesprächen mit Putin lauter, auch in ihrer SPD gibt es solche Stimmen. Was wären die Voraussetzungen dafür?
Gabriel: Eine wichtige Lehre der deutschen Außenpolitik lautet: nie wieder allein. Wer den Bundeskanzler auffordert, er solle mal im Alleingang mit Putin über die Beendigung des Krieges verhandeln, hat ein naives Verständnis von diesem Krieg, vor allem aber offensichtlich überhaupt keine Ahnung davon, wie das auf unsere Nachbarn insbesondere in Osteuropa wirken würde. Mal abgesehen davon, dass Putin nicht mit Deutschland verhandeln will, sondern mit den USA, würden solche deutschen Sonderwege die Europäische Union spalten. Vor allem aber hat der russische Präsident momentan doch überhaupt keinen Grund zu verhandeln. Wir können uns ja Vieles einreden, aber Russland wird weder durch die Sanktionen so hart getroffen, wie wir uns das vorgestellt hatten, noch ist es militärisch in irgendeiner bedrohlichen Lage. Um diesen Krieg zu beenden, braucht man andere Impulse, etwa aus China oder dem globalen Süden. Dass der Bundeskanzler mit all diesen Akteuren im Gespräch bleibt, finde ich absolut richtig.
Die deutsche Außenpolitik war aus heutiger Sicht voller Irrtümer – mit Blick auf Putin, auf Trump, auf China. Was war Ihr persönlich größter Irrtum?
Gabriel: Wie viele andere habe auch ich geglaubt, wir hätten den richtigen Umgang mit Russland gefunden. Das hat sich als großer Fehler herausgestellt. Wir hätten auf unsere osteuropäischen Nachbarn hören müssen. Das haben wir nicht getan. Der größte Irrtum meiner Zeit.
Olaf Scholz wurde gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft von der Realität eingeholt. Derzeit kann er sich kaum Hoffnungen auf eine zweite Amtszeit machen. Er hat nichts mehr zu verlieren. Ein guter Zeitpunkt, um doch noch die Führung in Europa zu übernehmen?
Gabriel: Ein Kanzler muss das tun, was er für richtig hält und darf sich nicht von Umfragen leiten lassen. Dafür ist die Lage viel zu dramatisch. Wir reden hier über Krieg und Frieden in Europa. Aber in der Tat hoffe ich, dass Olaf Scholz und Emmanuel Macron trotz der Schwierigkeiten in Deutschland, trotz der Schwierigkeiten in Frankreich aufeinander zugehen – und am besten noch Polen mit Premier Donald Tusk dazunehmen. Dieses „Weimarer Dreieck“ müsste eigentlich das Zentrum sein, von dem aus eine gemeinsame europäische Politik organisiert wird.
Es gibt Leute in der SPD, die laut darüber nachdenken, ob nicht Verteidigungsminister Boris Pistorius der bessere Kanzlerkandidat für 2025 wäre. Ist das eine Überlegung wert?
Gabriel: Ich halte das für Quatsch und kenne auch keine ernst zu nehmenden Akteure, die das fordern. Wenn eine Partei den Bundeskanzler stellt und dieser noch einmal kandidieren will, dann ist er natürlich der Kandidat.
Pistorius spricht sich für die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland aus. In Ihrer Partei gegen die Meinungen dazu aber weit auseinander. Wo stehen Sie?
Gabriel: Ich hätte mir gewünscht, dass das nicht im Geheimen entschieden und danach erst öffentlich darüber diskutiert wird. Bei einem derart sensiblen Thema ist es wichtig, offen zu reden, zu begründen, warum man das tun will und dann um Zustimmung zu werben. Wir haben jahrzehntelang darum gekämpft, dass diese Waffen aus Europa verschwinden. Deshalb kann ich verstehen, wenn die Debatte nun viele Menschen verunsichert. Auch mir stellen sich noch einige Fragen.
Welche Fragen sind das?
Gabriel: Warum sollen diese Raketen nur in Deutschland aufgestellt werden und nicht auch in anderen Nato-Staaten? Und: Warum verbindet man die Stationierung nicht mit einem gleichzeitigen Abrüstungsangebot an Moskau? Das war doch der Erfolg des Nato-Doppelbeschlusses Anfang der 80er Jahre. Russland hat solche Mittelstreckenraketen ja bereits in Kaliningrad aufgestellt. Der Westen reagiert nur darauf. Ich würde das aber direkt mit dem Angebot an Putin verbinden, dass wir diese Raketen wieder beseitigen, wenn auch er auf seine Raketen verzichtet.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht nutzt die Debatte um die US-Raketen, um sich zur „Friedenspartei“ zu stilisieren.
Gabriel: Das ist doch wirklich billig. Wenn Putin die Erfahrung macht, dass er mit militärischer Gewalt Grenzen verrücken kann, dann wird er es wieder tun. Ich staune wirklich darüber, wie in deutschen Medien Frau Wagenknecht regelrecht hofiert wird. Ich würde mir wünschen, dass die Samthandschuhe mal abgelegt werden, diese Frau vertritt ein antieuropäisches und prorussisches Programm. Sie ist das, was man eine Nationalbolschewistin nennen kann. Sie fordert nationale Alleingänge Deutschlands, wo wir doch wissen, dass nur eine gemeinsame europäische Stimme in der Welt Gewicht hat.
Sie hat Olaf Scholz als „Vasallenkanzler“ von Gnaden der USA bezeichnet. Was empfinden Sie dabei?
Gabriel: Ein Rückfall in die 50er Jahre. SPD-Chef Kurt Schumacher hat Konrad Adenauer damals „Kanzler der Alliierten“ genannt, weil er der Überzeugung war, dass die Westbindung die deutsche Teilung zementiert. Später hat die SPD aber klar gesagt, dass die Westanbindung richtig war, weil Deutschland andernfalls zum Spielball Stalins geworden wäre. Wagenknecht und AfD-Chefin Alice Weidel würden die Ukraine einfach den Russen überlassen und verstehen offenbar nicht, dass das erst der Anfang wäre. Beide sind zu keinerlei Gefühlsregung für das Leid der Ukrainer fähig. Man kann nur hoffen, dass sie niemals auch nur in die Nähe der Macht kommen.
In Ostdeutschland verhandelt die SPD schon über Koalitionen mit dem BSW. Kann das funktionieren?
Gabriel: Wir erleben doch bereits, dass Frau Wagenknecht in Wahrheit keinerlei Interesse daran hat, politische Verantwortung zu übernehmen. Sie persönlich will das verhindern, deswegen stellt sie ja eine absurde Bedingung für Koalitionsgespräche nach der anderen. Sie will die anderen Parteien mit außenpolitischen Forderungen erpressen, dabei kann man doch in der Verfassung nachlesen, dass die Außen- und Sicherheitspolitik reine Bundesaufgabe ist und in Koalitionsvereinbarungen der Länder nichts zu suchen hat. Wagenknecht drückt sich um die Verantwortung. Ein ziemlich durchschaubares Manöver. Jetzt müssen Frau Wolf in Thüringen und Frau Zimmermann in Sachsen mal zeigen, ob sie eigenständig handeln wollen und können, oder ob sie an der Marionettenfäden von Frau Wagenknecht im Saarland hängen.
Hätten Sie als SPD-Chef den Segen für ein solches Bündnis gegeben?
Gabriel: Es kommt darauf an, ob sich die Verantwortlichen vor Ort in Thüringen oder Sachsen tatsächlich von der großen Vorsitzenden mit leichtem Hang zum Stalinismus emanzipieren oder doch nur Marionetten bleiben. Solange Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine die Strippen ziehen, sind Koalitionen mit dem BSW für mich undenkbar. Dann sollte man lieber eine Minderheitsregierung bilden. Kein Land darf sich abhängig machen von einer stalinistisch organisierten Partei, deren Hybris ja schon dadurch deutlich wird, dass sie den Namen ihrer Parteivorsitzenden trägt.
Kehren wir zum Schluss noch einmal zur US-Wahl zurück. Joe Biden wird auf der Zielgeraden seiner Karriere mit einer Mischung aus Spott und Mitleid begleitet. Tun die Deutschen ihm Unrecht?
Gabriel: Absolut. Stellen wir uns nur mal vor, nicht Biden wäre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine US-Präsident gewesen, sondern Trump. Dann stünden die Russen heute an der polnischen Grenze. Joe Biden ist der Letzte seiner Art, noch im Kalten Krieg sozialisiert, ein großer Freund Deutschlands. Wir haben ihm sehr, sehr viel zu verdanken.
Was bedeutet sein Abgang für die großen Krisenherde der Welt?
Gabriel: Damit sind wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs. Wir werden weiter in dieser globalen Unordnung leben müssen. Das kann mit Donald Trump noch komplizierter und ruppiger werden. Aber machen wir uns keine Illusionen: Auch wenn Kamala Harris die Wahl gewinnt, wird die Welt nicht mehr so, wie wir sie mal kannten.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden