Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: "Putin ist inzwischen der allmächtige Diktator, Russland ein autoritäres System"

Interview

"Putin ist inzwischen der allmächtige Diktator, Russland ein autoritäres System"

    • |
    Wolfgang Thierse war Bundestagspräsident, als Wladimir Putin seine bis heute beachtete Rede im Bundestag hielt.
    Wolfgang Thierse war Bundestagspräsident, als Wladimir Putin seine bis heute beachtete Rede im Bundestag hielt. Foto: Hans Scherhaufer, Imago

    Herr Thierse, Ihr Büro im Bundestag liegt nahe der russischen Botschaft. Das Areal ist weiträumig abgesperrt. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das sehen?
    WOLFGANG THIERSE: An den Zustand kann ich mich nicht gewöhnen, vor allem nicht an die von Putin ausgehende russische Aggression.Tote nach russischen Raketenangriffen auf OdessaLive-Ticker zur Ukraine Zum ersten Mal seit 1945 hat ein großes Land seinen Nachbarn überfallen und damit alle Regeln und Verträge, die den europäischen Frieden gesichert haben, zerstört.

    In ihrem Amt als Bundestagspräsident haben Sie Wladimir Putin erlebt, als er im Jahr 2001 vor dem Bundestag sprach. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag? Wie wirkte Putin?
    THIERSE: Ich habe damals ein langes und interessantes Vieraugengespräch mit ihm geführt. Putin spricht ein schönes weiches russisches Deutsch. Er war ein sympathischer Gesprächspartner. Seine Rede vor dem Bundestag hat uns alle – wirklich quer durch die Parteien – begeistert. Wir alle hatten den Eindruck, dass dieser Mann an Michail Gorbatschow anknüpft. Wir waren froh, dass es einen Politiker gab, der nach der unruhigen Zeit unter Boris Jelzin Russland auf geordnete Weise in Richtung Europa führt. Wir haben alle geklatscht. Umso entsetzter waren wir über die Wendung, über die Veränderung Putins und seiner Politik in den Jahren danach. 

    Der russische Präsident Wladimir Putin sprach im Jahr 2001 während einer Sondersitzung des Bundestages. Es war die erste Rede eines russischen Präsidenten im Bundestag.
    Der russische Präsident Wladimir Putin sprach im Jahr 2001 während einer Sondersitzung des Bundestages. Es war die erste Rede eines russischen Präsidenten im Bundestag. Foto: Peer Grimm, dpa

    Putin war damals das erste russische Staatsoberhaupt, das vor dem Bundestag reden durfte. Sie hatten, wie viele andere auch, den Eindruck, der Westen und Russland stünden für die gleichen Überzeugungen, die gleichen Werte. 
    THIERSE: Putin klang so überzeugend, dass wir keinerlei Anlass hatten, daran zu zweifeln oder ihm zu misstrauen. Er kam ausdrücklich mit dieser Botschaft zu uns: Wir sind Teil Europas, wir teilen eure Werte, wir haben gemeinsame Interessen, der Frieden ist unser gemeinsames Ziel. Warum hätten wir ihm widersprechen sollen? 

    Wie konnte es geschehen, dass sich Putin in das Gegenteil dessen verkehrt hat, was er damals gesagt hat?
    THIERSE: Ich will keine Putin-Psychologie betreibenSeine Macht soll grenzenlos seinWahl in Russland, so wie man früher einmal „Kremologie“ betrieben hat. Es ist wirklich schwer zu sagen, ob seine Rede ein großes und offensichtlich gelungenes Täuschungsmanöver war, ob Putin schon damals jene Absicht verfolgt hat, die heute ganz deutlich zu sehen ist: Er will Russland wieder zu einer imperialen Macht formen. Putin empfindet den Untergang der Sowjetunion als eine historische Katastrophe, als eine Demütigung. Als solche hat er offensichtlich auch die US-amerikanische und die europäische Politik empfunden und daraus seine Konsequenz gezogen: Russland muss so stark sein wie möglich, es muss seine Stellung in der Welt zurückerobern. Und dazu gehört auch, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken wieder seiner Macht unterworfen sind. Mit Belarus ist das de facto schon so, die Ukraine ist jetzt dran, die baltischen Staaten sind im Visier. 

    Es ist die Frage, die immer und immer wieder gestellt wird: Hätte der Westen etwas anders machen können?
    THIERSE: Erinnern wir uns: Es gab eine Nato-Russland-Grundakte, einen Nato-Russland-Rat, eine Partnerschaft für den Frieden. Deutschland hat mit Frankreich die von den USA gewünschte Aufnahme der Ukraine in die Nato verhindert. Das kann man heute vielleicht als Fehler betrachten, aber es gab nicht die von Putin behauptete Aggressivität des Westens. Allerdings: Die Ukraine selbst wollte Teil des Westens werden, genau das war das Ziel der Proteste auf dem Maidan. Damit ist der Westen nicht nur näher an Russland gerückt, damit wurde auch Putins Macht infrage gestellt. Aber was wäre, wenn wir ihm in diesen Punkten nachgeben würden? Wir würden ihm einen Anspruch darauf gewähren, was in seinen westlichen Nachbarländern erlaubt ist und was nicht. Das wäre ein klarer Verstoß gegen einen elementaren Teil des Völkerrechts: das Selbstbestimmungsrecht. Dieses Recht gilt auch für die baltischen Länder, für die Ukraine, für Georgien, für Armenien etc. Das ist doch der Grundkonflikt.

    Wladimir Putins Ziel scheinen die Geschichtsbücher zu sein, dem unterwirft er alles…
    THIERSE: Jedenfalls hat er sich eine imperiale Ideologie zurechtgezimmert, die auf der Idee der „Ruskiy mir“ basiert – die russische Welt unter der Führung Moskaus. Diese Ideologie unterfüttert seinen Machtanspruch: Putin ist inzwischen der allmächtige Diktator, Russland ein autoritäres System, das dem Krieg unterworfen ist. Putins Herrschaft gründet inzwischen auf dem Krieg, das soll die Wahl nur verschleiern.

    Eigentlich hätte Putin Russland in ein modernes Land verwandeln können. Konnte oder wollte er diese Chance nicht nutzen?
    THIERSE: Russland ist das größte und reichste Land der Welt, ein Land mit nahezu unerschöpflichen wirtschaftlichen Reserven – und der Präsident macht daraus ein kriegerisches Land, eine Kriegswirtschaft, wo die Freiheit und der Wohlstand der eigenen Bürger nichts zählen. 

    Trotz all dieser Tatsachen stehen die Russinnen und Russen fest zu Putin. Wie ist das zu verstehen?
    THIERSE: Wir als Deutsche müssen uns nur an die Zeit des Nationalsozialismus zurückerinnern, um das zu verstehen. Ein Volk, das keine Meinungs- und Informationsfreiheit hat, lässt sich politisch und ideologisch formen, um nicht zu sagen: dressieren. 

    Hingen wir zu lange dem Wunsch an, dass nach Gorbatschow ein anderer Typus des russischen Präsidenten geboren war?
    THIERSE: Wir konnten nach 1989, nach den friedlichen Revolutionen, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Überwindung der Ost-West-Systemkonfrontation hoffen, dass eine friedliche Welt möglich ist. Gerade auf unserem Kontinent, der immer auch ein Kontinent der Kriege war. Es gab wirklichen Grund für diese Hoffnung. Dass sich dies heute als bittere Illusion erweist, liegt an Putin. Doch es wäre ein Fehler, die Hoffnung von damals zu verdammen. Wir sollten uns aber kritisch fragen, ob der Westen in den 90er-Jahren selbst Fehler begangen hat, die dazu geführt haben, dass sich diese Hoffnungen nicht erfüllen konnten. Waren die Initiativen und Verträge zu Fragen der Abrüstung, der Erweiterung von Europäischer Union und Nato, wirklich angemessen und ausreichend? Aber ich füge dieser Frage sofort hinzu: Gerade Deutschland hat doch – was uns ja heute zum Vorwurf gemacht wird – seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ausgebaut, natürlich auch um unseres eigenen Vorteils willen. Wir haben billiges Erdöl und Gas bezogen, dafür Maschinen und Technologie exportiert. Es gab so etwas wie eine Modernisierungspartnerschaft. Putin hat das offenbar nicht gereicht. Aber entscheidend ist eine einfache Tatsache: Freiheit und Demokratie und Wohlstand des Westens stellen Putins Machtsystem infrage. Diese Tatsache können wir nicht ändern und wollen das hoffentlich auch nicht.

    Sind wir damit zurück in der Zeit der Blockkonfrontation der Großmächte?
    THIERSE: Zumindest sind wir zurück in einer Zeit der Konfrontationen. Der Westen muss jetzt darauf achten, dass es nicht wieder zu einer Zweiteilung der Welt kommt. Es ist in unserem Interesse, andere Regionen dieser Welt wie Indien, Brasilien oder Südafrika nicht auf die Seite Russlands und Chinas zu treiben, sondern dass wir in einer multipolaren Welt leben können, in der Verträge gelten und Beziehungen geordnet sind. 

    Auch mit Russland werden wir eines Tages wieder zusammenarbeiten müssen. Aber wie kann man jemals zurückfinden auf einen gemeinsamen Weg, wenn auf Putins Wort kein Verlass ist, wenn er seine politischen Gegner ausschaltet und das Völkerrecht brutal verletzt?
    THIERSE: Da reicht auch meine Fantasie nicht. Ich hoffe und wünsche aber, dass schon im Krieg über den Krieg hinausgedacht wird, dass Verhandlungen sondiert, ein Waffenstillstand vorbereitet und dass vorgeplant wird, was am Ende dieses Krieges stehen könnte und müsste: Vereinbarungen, Regeln, Ordnungen zur Sicherung des Friedens. Denn wir wissen: Auch nach dem Krieg – und ich hoffe, er geht für die Ukraine gut aus – bleibt Russland ein wichtiger, weil großer, Akteur und Nachbar.

    Eine große Sorge vieler Menschen ist, dass Putin auch uns in einen Krieg ziehen könnte. Aber sind wir nicht längst Teil seines Kampfes? Er lässt die Bundeswehr abhören, schürt gezielt die Stimmung im Land an, verstärkt Flüchtlingsströme…
    THIERSE: Es ist unübersehbar und eindeutig: Putin führt einen hybriden Krieg weit über die Ukraine hinaus, behauptet aber selbst, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führe, und das erlaube ihm, alle Mittel einzusetzen. Trotzdem ist es in unserem eigenen Interesse, eine Politik der Nicht-Eskalation zu betreiben. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich die Position von Bundeskanzler Olaf Scholz. Wir müssen alles tun, was möglich ist, um die Ukraine zu unterstützen – auch militärisch. Aber wir müssen so vorgehen, dass es keine Eskalation über die Ukraine hinaus gibt. Deshalb ist es auch wichtig, die Einigkeit des Westens aufrechtzuerhalten.

    Ist die nicht längst beschädigt, unter anderem durch das Hickhack zwischen Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron?
    THIERSE: Na ja, dazu muss man wissen: Frankreich leistet viel weniger für die Ukraine und Präsident Macron scheint das rhetorisch ausgleichen zu wollen. Trotzdem wäre es besser, so etwas nicht öffentlich auszutragen. Putin rechnet damit, dass die Ukraine militärisch nicht durchhalten kann, er rechnet mit der Uneinigkeit des Westens und er hofft auf einen Wahlerfolg von Donald Trump in den USA. Dem müssen wir uns entgegenstemmen – im Falle Trumps können wir natürlich nur hoffen. 

    Gerade im Osten Deutschlands gibt es durchaus Verständnis – oder zumindest Erklärungsversuche – für Putin. Warum ist unser Blick auf Russland und seinen Präsidenten so verschieden?
    THIERSE: Das ist gar nicht so einfach zu erklären, weil es verschiedene Faktoren gibt. Zum einen gibt es die allgemeine und höchst menschliche Sehnsucht nach Frieden, die wir alle miteinander teilen. Doch dann trennen sich die Wege. In der DDR hatten die Menschen ein widersprüchliches Verhältnis zu Moskau. Einerseits war Russland Besatzungsmacht, wir hatten den Befehlen zu gehorchen, andererseits war es der politische „Freund“. Es gab eine größere kulturelle Vertrautheit. Die DDR-Bürger haben mehr sowjetische Literatur gelesen, Filme geschaut, Musik gehört. Und dann gibt es noch einen moralischen Punkt: Die Folgen des Nazi-Krieges waren in der DDR länger sichtbar, Deutschlands Verantwortung für Millionen Tote der Sowjetunion ist vielen Ostdeutschen bis heute bewusst. Daraus resultiert ein Schuld- und Verpflichtungsgefühl gegenüber Russland. Im Gegensatz dazu waren die USA vielen Ostdeutschen sehr viel ferner, anti-amerikanische Gefühle sind nicht selten. Dazu kommt die stärkere wirtschaftliche Vernetzung Ostdeutschlands mit Russland. Also insgesamt ein widersprüchliches Gefühlsgeflecht, das zu einer größeren Sympathie für Russland führt und zu mehr Verständnis für Putin.

    Gibt es trotz der schwierigen Gemengelage etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
    THIERSE: Wenig. Vielleicht die Tapferkeit in der Ukraine.

    Zur Person

    Wolfgang Thierse war Bundestagspräsident, als Wladimir Putin seine bis heute beachtete Rede im Bundestag hielt. Der 80-Jährige bezeichnet sich selbst als "kuriose Mischung": Ostdeutscher, Sozialdemokrat und Katholik. Thierse wurde in Breslau geboren, von wo seine Familie schließlich vertrieben wurde. 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden