In Taiwan ist Präsidentin Tsai Ing-wen mit 57 Prozent überraschend klar wiedergewählt worden, nachem sei noch vor ein paar Monaten noch als politisch gescheitert galt. Sie vertritt eine Politik der deutlichen Distanz zu Peking. Was bedeutet ihr Erdrutschsieg für Chinas Staatsführung?
Martin Winter: Zumindest wird es für Peking nun nicht leichter, seine Ein-China-Politik durch die Einverleibung Taiwans zu vollenden. Die Taiwaner haben mit dieser Wahl klar gemacht, was sie davon halten, nämlich nichts. Das haben die kommunistischen Machthaber sich freilich selber zuzuschreiben. Ihr brutaler Umgang mit den Demonstranten in Hongkong hat viele Taiwaner zurück ins politische Lager der Demokratischen Fortschrittspartei von Tsai Ing-wen und einer taiwanesischen Eigenständigkeit getrieben. Sie haben damit ein Zeichen gegen die chinesischen Autokraten gesetzt.
Die Volksrepublik wird kaum auf ihren Anspruch auf Taiwan verzichten. Müssen wir uns auf einen verschärften Konflikt einstellen?
Winter: Mit Sicherheit. Die chinesische Führung unter Xi Jinping wird politisch und diplomatisch alle Hebel in Bewegung setzen, um Taiwan international weiter zu isolieren. Und eine militärische Option hat sich Peking immer vorbehalten und demonstrativ damit gedroht.
Hat die Unterdrückung der Uiguren, die weltweit immer mehr Kritik hervorruft, bei der Entscheidung in Taiwan auch eine Rolle gespielt?
Winter: Mit Sicherheit. Vor allem die jungen Taiwaner schätzen ihre individuellen und demokratischen Freiheiten. Das chinesische Modell ist da nicht besonders attraktiv.
Die Verfolgung der Uiguren hat auch im Westen einzelne Forderungen nach wirtschaftlichen Sanktionen ausgelöst. Wird das Verhältnis zwischen der EU und China dadurch beeinträchtigt?
Winter: Kurzfristig zweifellos. Kein europäischer Politiker kann dieses chinesische Lagersystem einfach ignorieren. Langfristig wird es aber keine nachhaltigen Wirkungen haben. Denn was derzeit den Uiguren geschieht, ist schon den Tibetern widerfahren, ohne dass sich der Westen groß darum geschert hätte. De Lager, in die uigurische Männer gepfercht werden, waren schon lange bekannt. China ist nun mal eine Diktatur und ein Polizeistaat.
Und warum nehmen die Europäer das so einfach hin?
Winter: Wir sind mit China wirtschaftlich mittlerweile so eng verflochten, dass wir uns ins eigene Fleisch schnitten, wenn wir mit massiven Wirtschaftssanktionen reagieren. Da bleibt halt nur der verbale Protest.
Versteht die Politik in Europa eigentlich genau, was in China vor sich geht und wohin China will?
Winter: Wir Europäer sehen China vor allem als wirtschaftliche Herausforderung. Aber wir sind blind dafür, dass China an einem umfassenden Gegenkonzept zum Westen arbeitet. Ein Konzept, in dem kapitalistische Wirtschaft und sozialistische Gesellschaftsordnung miteinander verknüpft werden. Chinas Staatspräsident Xi Jinping nennt das den „chinesischen Weg“. Das ist ein umfassender Gegenentwurf zu unserer Art zu leben und Politik zu betreiben. Er ist ein konzentrierter Angriff auf die Grundlagen der liberalen Gesellschaft, also individuelle Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und demokratischen Machtwechsel. Peking fürchtet das westliche Modell, denn setzt sich das weltweit durch, wäre es der sichere Anfang vom Ende der kommunistischen Parteidiktatur in China.
Zeigt aber beispielsweise das chinesische Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ nicht, dass China sich der Welt öffnet und globale Kooperation sucht?
Winter: In dem Projekt steckt einiges an entwicklungspolitischem Potenzial für Zentral- oder Kleinasien. Im Kern aber ist die „Neue Seidenstraße“ so angelegt, dass China seinen Einfluss bis nach Europa oder auch nach Afrika ausdehnt. China will mit sehr viel Geld die Modernisierung armer finanzschwacher Länder finanzieren. Denen stellen die Chinesen Infrastrukturprojekte auf Kreditbasis hin. Das schafft ökonomische Abhängigkeit und der folgt immer die politische.
Welches Eigeninteresse verfolgt China dabei ?
Winter: China ist eine Großmacht in einer komplizierten strategischen Lage. Deren Überleben und Erfolg hängen davon ab, dass ihre Nachschubwege für Rohstoffe und ihre Handelswege stabil und sicher sind. Diese Wege sind zu Wasser und zu Lande gegenwärtig noch anfällig für Blockaden. Die Gefahr wird umso geringer, je mehr Peking jene Länder in seine politische Abhängigkeit bringt, durch die wichtige Handels- und Nachschubwege gehen. Auch deshalb baut China seine Kriegsmarine massiv aus. Die Handelsrouten zur See sind schließlich die Hauptadern des Welthandels.
Wirkt diese Politik bis in die EU hinein?
Winter: In der EU und unter den EU-Beitrittskandidaten gibt es etliche Länder, die China finanziell inzwischen so weit verpflichtet sind oder so dringend auf chinesische Investitionen hoffen, dass sie ihm politisch nicht mehr widersprechen. Faktisch ist es nicht mehr möglich, eine gemeinsame kritische Position zu China zu beschließen.
Welche Rolle spielen dabei deutsche Unternehmen? Es gibt doch Konflikte mit China.
Winter: Zum einen sind die deutschen und die westlichen Investoren an politisch spannungsfreien Beziehungen ihrer Länder mit China interessiert und das wissen die Regierungen sehr wohl. VW zum Beispiel macht die Hälfte seines weltweiten Umsatzes in China. Auch andere deutsche Autobauer kämen ohne den chinesischen Markt in große Schwierigkeiten. Die Verhältnisse sind derzeit unfair. Während chinesische Investoren faktisch unbehindert auf dem europäischen Markt agieren können, gibt es erhebliche Restriktionen für europäische Unternehmen auf dem chinesischen Markt. Diese Ungleichbehandlung muss beendet werden.
Manche fürchten Sicherheitsrisiken. So könnte der chinesische Telekom-Konzern Huawei über seine Teilnahme am 5G Netz Spionage für Peking betreiben.
Winter: Ob das technisch tatsächlich möglich ist, ist mangels konkreter Belege schwer zu sagen. Die Europäer sollten sich lieber die Frage stellen, wieso die Chinesen technologisch so weit sind, dass wir auf ihre Zulieferungen angewiesen sind, wenn wir 5G schnell bauen wollen.
Sie fordern, dass die EU eine eigene China-Strategie entwickelt. Wie sollte die aussehen?
Winter: Europa braucht eine einheitliche und überzeugende Stimme gegenüber China. Es wäre ein guter Anfang, nur noch gemeinsam mit Peking zu verhandeln, ob es nun um Investitionen, Aufträge oder um politische Beziehungen geht. Leider ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sich alle EU-Mitglieder auf eine gemeinsame und klare Position einigen können. Die Alternative wäre eine Koalition der Willigen. Dass sich also europäische Kernländer, die wirtschaftlich, politisch aber auch militärisch stark sind, darauf verständigen, China zwar als verhandlungsbereiter, aber als sehr selbstbewusster und seine Werte und Grundregeln verteidigender Block gegenüber zu treten. An so einem Block käme China nicht so leicht vorbei.
Sie wagen in Ihrem Buch die Prognose. dass 2049 eine aus der den Ruinen der EU entstandene „Europäische Konföderation“ an der Jahrhundertfeier der chinesischen Volksrepublik teilnimmt. Ist die EU in ihrer jetzigen Form nicht überlebensfähig?
Winter: Ich fürchte nein. Die EU ist für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht richtig aufgestellt. Sie ist innerlich zerrissen und dadurch gelähmt.
Zur Person: Martin Winter ist Journalist und war lange Korrespondent bei der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung in Bonn, Washington und Brüssel. Sein Buch „China 2049. Wie Europa versagt“ (304 Seiten, 19,90 Euro) erschien im SZ-Verlag.
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