Herr Dressler, am Sonntag stimmen Europas Bürger über das nächste EU-Parlament ab. Wie läuft der Wahlkampf denn auf Tiktok?
Simon David Dressler: Der drückt sich am ehesten darin aus, wie viele neue Gesichter es plötzlich auf Tiktok gibt. Zahlreiche Europaabgeordnete haben neuerdings einen Account, nur kommen sie ungefähr drei Jahre zu spät. Erst im Januar nach der Correctiv-Recherche zu rechtsextremen Remigrations-Plänen sind die Leute auf den Trichter gekommen, dass die AfD populär auf Tiktok ist. Im medialen politischen Berlin brach deshalb große Panik aus und jetzt versucht man mit Krampf, Tiktok zu bespielen.
Ein Beispiel: Während die AfD Hunderttausende von Followern hat, gab es die Grünen jahrelang nicht einmal.
Und jetzt? Wie schlagen sie sich?
Dressler: Für den Anfang nicht so schlecht. Die Politiker, die schon länger auf Tiktok waren, dachten ja, sie müssten dümmliche Tänze aufführen, um die Leute zu bespaßen. Aber so ist es einfach nicht. Heute sehe ich viele Clips von Politikern, bei denen ich wegscrolle, weil sie so einschläfernd und nicht Tiktok-kompatibel sind. Politiker haben einen bestimmten Sprechduktus, den sie bei großen Reden auspacken können. Aber in einem 20 bis 90 Sekunden langen Video – wenn das nächste nur einen Fingerzeig entfernt ist – braucht man eine andere Art der Präsenz, ein Video-Charisma.
Was wäre notwendig? Politik stark zu verkürzen und zu vereinfachen?
Dressler: Irgendwie verkürzt man aber doch immer. Wenn Frank-Walter Steinmeier sein neues Buch schreibt, verkürzt er darin auch gnadenlos. Die Herausforderung bei Tiktok ist es, zu verkürzen, ohne dass man Sachen grob falsch darstellt. Man muss abwägen: Was möchte ich erreichen und wie bleibe ich in einem moralisch ethischen Rahmen? Ich habe eine Schlagrichtung, die in jedem Video durchkommt. Und dementsprechend kürze ich.
Warum sind die Rechtspopulisten so erfolgreich auf Tiktok?
Dressler: Sie emotionalisieren extrem stark. Die AfD hat ein leichtes Spiel, weil sie nicht an Fakten gebunden ist. Sie kann einfach daherreden, wie sie will. Ein entscheidender Vorteil der AfD war aber vor allem, dass sie früh genug dabei war, Tiktok ernst genommen und dann diese starke Emotionalisierung eingebaut hat. Sie scheint einen stringenten Social-Media-Plan zu haben. Die Accounts der Abgeordneten werden quasi zentral verwaltet und es gibt eine einheitliche Bildsprache, einheitliche Regeln, die alle befolgen. Es ist kein Tohuwabohu, sondern sehr durchgetaktet. Ich habe das Gefühl, dass die Politiker ihre Bundestagsreden zum Teil nur noch für Tiktok schreiben.
Die Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei, die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, verzichtet im Wahlkampf auf Tiktok. Taucht sie in der Wahrnehmung von jungen Menschen überhaupt auf?
Dressler: Das Gesicht hat man wahrscheinlich schon mal irgendwo gesehen, aber sie ist nicht auf Wahlplakaten, sie ist nicht auf Tiktok. Wo soll man ihr denn dann begegnen? Das halte ich für die Rolle als Kommissionspräsidentin, die im Ausland die EU repräsentiert, für schwierig.
In Brüssel steht Tiktok in der Kritik, weil es eine chinesische App ist. Letztes Jahr hat das Parlament seinen Mitarbeitern Tiktok auf den Diensthandys verboten. Und noch immer lehnen etliche Abgeordnete die Videoplattform aufgrund von Sicherheitsbedenken wegen mangelnden Datenschutzes ab. Was sagen Sie dazu?
Dressler: Die Rechtsextremen sind auf Tiktok und sie kommunizieren dort mit jungen Menschen. Die anderen Politiker haben also die Wahl: Entweder sie geben das Feld einfach auf und sagen, junge Menschen interessieren uns nicht. Oder sie verbieten Tiktok.
Von der Leyen schließt ein Verbot nicht aus.
Dressler: Das wird nur auf EU-Ebene nie oder erst in vielen Jahren passieren. Bis dahin werden die Rechten freie Hand haben.
Was wäre also die beste Option?
Dressler: Dass man sagt: Ok, wir machen da mit, auch wenn es nicht perfekt ist. Die Sorge, dass Daten missbraucht werden, gibt es ja nicht nur bei Tiktok. Wenn ich daran denke, welchen Schaden Facebook an der Demokratie angerichtet hat, insbesondere auf den US-Wahlkampf 2016 bezogen, aber auch was allgemein die Desinformationen angeht, die auf Facebook jahrelang ungezügelt gelaufen sind, ohne dass das jemanden interessiert hat, dann stößt mir diese Scheinheiligkeit übel auf. Um geopolitische Stellungskriege mit den Chinesen auszufechten, fokussiert man sich nun auf Tiktok. Dabei geht es nicht um Datenschutz oder die Verteidigung der Demokratie. Denn diesbezüglich ist nicht nur Tiktok der Feind, sondern alle Social-Media-Plattformen. Oder ist es besser, wenn meine Daten von westlichen Unternehmen geklaut und verkauft werden?
Haben Sie keine Bedenken, dass Ihre Daten ausspioniert werden?
Dressler: Vielleicht ist es naiv von mir, aber ich habe mich, wie viele junge Leute, schon vor Jahren von dem Begriff Privatsphäre im Internet verabschiedet. Solange die Plattformen kostenlos sind, bezahlt man mit seinen Daten. Das ist der Deal, den wir als Gesellschaft anscheinend eingegangen sind mit diesen oligopolartigen Unternehmen. Man hätte vor 20 Jahren regeln können, dass Facebook sich nicht an Userdaten bereichern darf, wie es will. Das hat man aber nicht gemacht. Ich bin dafür, dass man das nachholt.
Viele junge Menschen nutzen soziale Medien, um sich zu informieren. Ersetzen Polit-Influencer Journalismus?
Dressler: Ja, und das halte ich für nicht gut. Ich bin kein Journalist und ich möchte auch keiner sein. Dazu bin ich zu voreingenommen. Mir geht es darum, meine Meinung zu sagen. Dadurch, dass viele junge Menschen nur noch Tiktok konsumieren und nicht täglich eine Zeitung aufschlagen, verwechseln sie Polit-Influencer mit Journalisten. Aber ich glaube auch, dass Journalisten mehr auf Tiktok vertreten sein sollten. Nur können sie weniger mit Emotionalisierungen arbeiten. Das ist ein Dilemma und ich weiß nicht, wie man das auflöst.
Umso mehr Meinung, desto besser?
Dressler: Das Problem ist, dass man auf Tiktok schnell darauf konditioniert wird, das zu machen, was funktioniert, also die emotionale, aufgebrachte Aktivismus-Schiene zu fahren. Je klarer die Feindlinien gezogen werden, desto aufgebrachter werden die Leute und desto eher bleiben sie dran. Das kann man leider so vereinfacht sagen. Man spielt komplett nach den Regeln der Social-Media-Konzerne. Dadurch haben um Neutralität bemühte Berichterstatter ein Problem, weil sie gewissermaßen durch das Raster fallen.
In Deutschland darf man erstmals schon ab 16 Jahren abstimmen. Sind Sie optimistisch, dass die 16-Jährigen das tatsächlich nutzen?
Dressler: Viele werden zum Wählen motiviert, um die AfD zu verhindern. Und die muss man auch verhindern, aber ich bin kein Fan davon, dass man nur gegen etwas abstimmt. Sonst landet man in einer Situation wie in Frankreich, wo es alle fünf Jahre nur darum geht, noch einmal Le Pen abzuwenden.
Was wünschen Sie sich stattdessen?
Dressler: Dass Politiker junge Leute aktiv aus positiven Gründen dazu bewegen, für sie zu stimmen mit Botschaften wie: Wir sorgen dafür, dass du nicht mehr die Hälfte deines Einkommens an deinen Vermieter überweisen musst, dass deine Schultoilette nicht mehr aussieht, als wäre eine Bombe eingeschlagen, dass du nicht mit der Wehrpflicht rechnen musst. Es sollte um Inhalte gehen und nicht nur darum, die Bösen zu verhindern. Vor allem wünsche ich mir, dass junge Menschen ernst genommen werden und sie mehr Raum im politischen Diskurs einnehmen. Dazu gehört eben auch Tiktok.
Zur Person: Simon David Dressler (24) ist Polit-Influencer und erreicht auf Tiktok knapp 50.000 junge Menschen mit meinungsstarken Videos über Politik. Der „progressive Populist“, wie er sich bezeichnet, lebt in Berlin und studiert an der Humboldt-Universität Theoretische Linguistik.