Herr Doktor Schwarzmann, als Manager am Uniklinikum Würzburg und Vizevorsitzender der bayerischen Notärzte kennen Sie Personalmangel aus der täglichen Praxis. Obwohl mehr Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte denn je in Kliniken arbeiten, ist überall die Klage über den Fachkräftemangel groß. Was läuft schief?
Gerhard Schwarzmann: Bislang haben die Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel nicht die erhofften Erfolge gebracht, sondern oft zu neuen Problemen geführt. Viele Kliniken werben sich Personal gegenseitig ab, was die Lage zusätzlich verschärft. Durch die Fluktuation steigen die Kosten. Viele sind gleich wieder weg, nachdem sie eingearbeitet wurden. Auch die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland ist oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn das alles ändert wenig am Grundproblem: Die Ärzte und Pflegekräfte werden, was die Patientenversorgung anbelangt, zum Großteil weder effektiv noch effizient eingesetzt. Denn die wesentlichen Ursachen des Fachkräftemangels sind unrealistische Vorgaben, Bürokratie, Überregulierung und ein hochkomplexes Abrechnungssystem. Unser Gesundheitssystem krankt nicht an zu wenig Menschen, sondern an zu viel Vorschriften.
Ist die Politik für den Fachkräftemangel verantwortlich?
Schwarzmann: So einfach kann man das nicht sagen. Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof vor über 20 Jahren nach langem Kampf der Mediziner entschieden, dass der Bereitschaftsdienst von Ärzten in Kliniken grundsätzlich als Arbeitszeit zu werten ist. Die Einführung der Schichtsysteme war ein wichtiger Fortschritt, aber reduzierte gleichzeitig die Zahl der verfügbaren Ärzte, da sie mehr wohlverdiente Freizeit bekamen. Zudem haben wir ein Finanzierungssystem, das inzwischen Tausende Ärzte in Vollzeit patientenfern beschäftigt: Um Kliniken, Ärzte, Heime und Abrechnungen zu kontrollieren oder Pflegegrade zu prüfen, beschäftigt der Medizinische Dienst der Krankenkassen über 2000 Ärzte und 4000 Pflegekräfte, die in der Patientenversorgung fehlen. Bei Kliniken werden beispielsweise einzelne Fälle überprüft, ob sie gerechtfertigt stationär behandelt wurden oder ob man sie auch ambulant hätte versorgen können. Auf der anderen Seite rüsteten die Krankenhäuser ihr sogenanntes Medizincontrolling hoch, damit ihre Abrechnungen und Leistungen ohne Beanstandung durch die Prüfung kommen. Auch hier reden wir nicht von Hunderten, sondern Tausenden Ärzten, die hier gebunden sind. Das sind nur zwei Beispiele von vielen …
Herrscht im Gesundheitssystem ein zu starkes Misstrauen zwischen Politik, Kassen und medizinischen Leistungsanbietern?
Schwarzmann: Die deutschen Gesundheitsausgaben liegen insgesamt bei rund einer halben Billion Euro, da braucht es natürlich Kontrolle. Aber wir haben hier inzwischen Zustände erreicht, wo man dringend sowohl aufseiten des Medizinischen Dienstes als auch der Krankenhäuser wieder abrüsten muss. Das gilt ebenso für die über Jahre massiv hochgeschraubten Standards der Qualifikations- und Verfügbarkeitsanforderungen von Personal. Kliniken, die Knochenmarkstransplantationen durchführen, benötigen rund um die Uhr eine ausgebildete Spezialpflegekraft, selbst wenn kein entsprechender Patient auf der Station liegt. Oder man braucht stets zusatzqualifizierte Notfallmediziner in Notaufnahmen, selbst dann, wenn sämtliche andere Facharztgruppen verfügbar sind. Es gibt sehr viele solcher Vorschriften, die in der Praxis und wissenschaftlich keinen Sinn machen.
Das heißt, Abbau von Bürokratie und weniger Regulierung wäre die beste Medizin gegen den Fachkräftemangel?
Schwarzmann: Wir brauchen auf jeden Fall eine Gegenregulierung. Doch leider setzen Politik, Standesvertretungen aber auch die Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht immer noch etwas obendrauf. Auch die Digitalisierung führt in vielen Bereichen durch mehr Dokumentationsmöglichkeiten zu mehr anstatt weniger Arbeit. Wenn angestellte Ärzte in Umfragen angeben, bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Bürokratie, Dokumentationen und Verwaltung zu verbringen, dann ist das ein gewaltiger Missstand in unserem Gesundheitssystem. Wir brauchen dringend eine massive Entbürokratisierung im medizinischen Bereich für alle betroffenen Berufsgruppen. Wir müssen unsere Fachkräfte viel zielgerichteter im Sinne der Patientenversorgung einsetzen. Dabei gibt es auch einiges, was eine erfahrene Fachpflegekraft besser kann als ein junger Arzt frisch von der Uni. Doch auch hier stehen viele überflüssige Vorschriften im Weg.
Die Krankenhausreform soll den Fachkräftemangel lindern. Erwarten Sie Verbesserungen, wenn Kliniken mehr für das Vorhalten der Versorgungsleistung statt nur für tatsächliche Behandlungsfälle finanziert werden sollen?
Schwarzmann: Das neue System der Vorhaltepauschalen birgt genauso viele Fehlanreize wie das bisherige Fallpauschalensystem. Viele Kliniken werden versuchen, ihr Level im neuen Finanzsystem möglichst hochzuhalten, um nicht Geld zu verlieren. Das geht aber nur, wenn sie entsprechend Standards und Strukturen vorhalten, die wiederum viele Fachkräfte binden. Die Krankenhausreform droht daher zunächst einmal den Fachkräftemangel zu verschärfen. Viele Kliniken bleiben gezwungen, hochpreisige Eingriffe durchführen zu müssen, um halbwegs schwarze Zahlen zu erreichen. Hier besteht durch die Fehlanreize im System das Risiko, dass unnötig aufwendige Eingriffe angeboten werden, weil die Kliniken mit günstigeren Behandlungen nicht finanziell überleben könnten.
Genau solche Risiken unnötiger Operationen sollte die Reform beseitigen. Warum klappt das nicht?
Schwarzmann: Das Problem dieser Krankenhausreform ist, dass sie in kürzester Zeit zentralistisch am Reißbrett entworfen wurde und von oben herab als Schema einfach über alle Kliniken drübergestülpt werden soll. So kann man eine so wichtige Reform nicht angehen. Kein Krankenhaus will einfach runtergestuft werden. Viele werden alles tun, um ihren Status zu halten, aber aus der Notfallversorgung aussteigen. Andere haben so große finanzielle Probleme, dass sie Stationen und Abteilungen schließen. Dieser unkoordinierte Prozess droht abseits der Metropolen dazu zu führen, dass sogenannte Maximalversorger wie unsere Uniklinik in Würzburg bald mit Notfallpatienten überrannt werden könnten. Und genauso wächst das Risiko, dass es bei vielen Kliniken für planbare Operationen künftig zu längeren Wartelisten kommen könnte.
Woran krankt die Reform von Minister Karl Lauterbach?
Schwarzmann: Eine solche Reform kann man nicht einfach aus der Berliner Zentrale machen, sondern man braucht regionale Konzepte und muss alle Beteiligten an die Tische holen. Das geht nicht in ein paar Monaten in einem Machtkampf mit den Ländern. Nun drohen Klinikinsolvenzen, die über die Versorgung vor Ort entscheiden. Solch ein Reformprozess braucht viel Zeit, deshalb hatte Nordrhein-Westfalen dafür sechs Jahre veranschlagt. Man braucht einen möglichst breiten Konsens, viele runde Tische vor Ort und eine Zustimmung in den Regionen. Eine Lösung für Unterfranken kann anders aussehen als eine für Schwaben. Der Bund dagegen will die Reform sogar an den Ländern im Bundesrat vorbei durchdrücken. Das wird noch zu vielen Problemen führen.
Zur Person: Gerhard Schwarzmann, 61, leitet das medizinische Struktur-, Prozess- und Qualitätsmanagement des Universitätsklinikums Würzburg und ist stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte AGBN.