Herr Söder, es hat ja schon einen gewissen Déjà-vu-Effekt. Wir saßen vor einem Jahr auch hier auf Abstand und haben dem Weihnachtsfest ein bisschen skeptisch entgegengesehen, weil wir befürchteten, dass die Krise danach wieder schlimmer werden würde. Eigentlich hat sich gar nichts geändert gegenüber letztem Jahr, oder?
Markus Söder: Doch, eine ganze Menge. Vor einem Jahr steuerte die Krise zu diesem Zeitpunkt auf ihren Höhepunkt zu, wir hatten an Weihnachten die höchsten Zahlen. Jetzt verzeichnen wir seit gut zwei Wochen eine stabil sinkende Tendenz. Vor einem Jahr ging der Trend genau in die andere Richtung. Jetzt haben wir viele Geimpfte, wir haben 2G statt Schließungen, zum Beispiel im Handel oder in der Gastronomie. Und wir haben Schule mit Tests und Masken statt Schließungen. Aber in einem haben Sie recht: Corona belastet uns alle und die Herausforderung durch neue Mutationen, die ansteckender sind, bedeuten immer ein neues Anpassen an die Situation. Das derzeitige Delta-Management wirkt, aber wir müssen uns bereits jetzt auf die Omikron-Mutation einstellen, deren Auswirkungen wir noch nicht genau kennen. Das beschwert uns alle, auch mich.
Jetzt boostern wir um die Wette und das Boostern soll uns eigentlich retten, bevor die Omikron-Welle kommt. Aber das wird wohl nicht reichen, oder?
Söder: Das wird sich zeigen, es gibt noch zu wenig verlässliche Daten. Es gibt aber klare Anzeichen, dass Omikron wesentlich ansteckender ist und die Delta-Variante verdrängen könnte. Dafür gibt es Hinweise zum Beispiel aus Großbritannien. Über die Verläufe warten wir noch auf Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Es gibt Signale, dass Jugendliche und Kinder stärker betroffen sein könnten. Wir hoffen nicht, dass es so kommt. Auch die Impfstoffe müssen angepasst werden, die Hersteller arbeiten bereits daran. Generell war es ein Problem, dass die Stiko sich lange zurückgehalten hat bei der Frage, ob geboostert werden soll – und wenn ja, ab welchem Monat.
Die Ständige Impfkommission hat häufiger mal durch widersprüchliche Aussagen und durch Langsamkeit überrascht. Warum hat man die Stiko nicht mit mehr Mitteln ausgestattet, damit sie schneller entscheiden kann?
Söder: Da gab es in der Tat sehr unglückliche Momente. Die Stiko als Gremium verdient Respekt für ihre Arbeit, muss aber stärker professionalisiert und personell aufgestockt werden. Wir haben in anderen Ländern erlebt, dass schnelle Entscheidungen mithelfen, größere Probleme zu verhindern. Dazu kann auch die Stiko ihren Beitrag leisten.
Der Umstand, dass es bei der Stiko nur drei hauptamtliche Kräfte in der Zentrale gibt und die 18 Mitglieder ehrenamtlich arbeiten, ist seit Beginn der Pandemie bekannt.
Söder: Ich habe von der Stiko nicht nur einmal eine höhere Geschwindigkeit gefordert – und wurde dafür immer wieder kritisch hinterfragt. Aber Vorwürfe helfen in einer Pandemie nicht weiter. Wir lernen alle ständig dazu. Viele Dinge in diesem Jahr sind gut gelaufen, manches hatten wir anders erwartet. Zwei Dinge hätte ich zum Beispiel auch persönlich anders eingeschätzt: zum einen die Bereitschaft der Bevölkerung, sich impfen zu lassen, wenn der Staat kostenlos einen höchst wirksamen Impfstoff zur Verfügung stellt. Zudem hatten wir mit einem höheren Maß an Eigenverantwortung gerechnet, als die Maßnahmen gelockert wurden. Trotzdem möchte ich betonen: Die große Mehrzahl der Menschen macht im Kampf gegen Corona hervorragend mit, dafür meinen herzlichen Dank. Nur gemeinsam werden wir die Pandemie besiegen.
Also war die Politik ein bisschen naiv und hat die Bürger überschätzt?
Söder: Dazu vielleicht ein Beispiel: Ich habe bereits bei der Ministerpräsidentenkonferenz im August vorgeschlagen, eine 2G-Regel einzuführen. Damals haben fast alle gesagt: Um Gottes willen, der Söder wird ja noch schlimmer als der Lauterbach. Die Bereitschaft für solche Maßnahmen war zu dieser Zeit in der nötigen Breite auch angesichts niedriger Inzidenzen offensichtlich nicht vorhanden. Allerdings hatte ich gehofft, dass sich mehr Menschen impfen lassen. Es ist schwer zu verstehen, weshalb die Impfquote in einzelnen Landesteilen so unterschiedlich ausgeprägt ist.
Sie haben sich lange gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen, sind nun aber doch dafür. War nicht einer der größten Fehler der Corona-Politik, dass man diese so kategorisch ausgeschlossen hat? Die Kehrtwende nun kostet so viel Glaubwürdigkeit.
Söder: Ich verstehe diese Diskussion, aber klar ist doch auch: Neue Fakten erfordern eine Neubewertung. Und die Lage hat sich durch Impfdurchbrüche und aggressivere Mutationen wie die Delta-Variante grundlegend verändert. Und Omikron lauert bereits. Wir dürfen nicht in eine Endlosschleife geraten. Deswegen ist die Impfpflicht der einzige Ausweg, sonst stehen wir die nächsten Jahre immer wieder vor denselben Problemen – mit massiven Folgen für die Menschen, die Wirtschaft und unser gesamtes Leben. Nur Impfen verschafft Freiheit. Deshalb ist es schade, dass die Impfpflicht nicht gleich beschlossen, sondern die Entscheidung in den März vertagt wurde. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und ich sind überzeugt: Eine Impfpflicht hilft, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Denn am Ende wird jeder erkennen, dass die Impfung schützt und Freiheit gibt.
Stichwort Spaltung: Wir haben zuletzt verstörende Bilder gesehen, beispielsweise von Fackelzügen vor Politikerwohnungen. Sind derlei Querdenker-Demonstranten die „neuen Aasgeier der Pandemie“, wie es Winfried Kretschmann gesagt hat?
Söder: Ja, das ist einfach nur widerwärtig. Politiker können leichter damit umgehen, da sie gut geschützt sind. Aber der Hass reicht inzwischen leider weit in die Gesellschaft hinein. Journalistinnen und Journalisten, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker oder auch die Wissenschaft werden angegriffen. Es werden Menschen im Gesundheitssystem bedroht – Ärzte und Pflegekräfte –, wie es in dieser Form einfach nur eklig ist. Der Staat kann und darf sich das zum Schutz der Demokratie nicht bieten lassen. Wir müssen daher noch klarer die digitalen Kanäle in den Blick nehmen, die solche Dinge transportieren, zum Beispiel Telegram.
So einfach zu regulieren wie soziale Netzwerke ist so ein Dienst wie Telegram nicht …
Söder: Zunächst muss man diese Dienste unmissverständlich auffordern, Hass und Hetze zu beseitigen – und das auch rechtlich verbindlich festlegen. Wenn der Dialog scheitert, kämen weitreichende Maßnahmen infrage, etwa zu blockieren oder eine Verbannung aus den AppStores. Freiheit ist ein zentrales Gut. Es macht allerdings keinen Sinn, dass wir Feinden der Freiheit unbegrenzte Freiheit zugestehen.
Wenn wir schon über Krise reden, müssen wir auch über die Union reden. Die ist ja am Freitag mal wieder damit beschäftigt, nach einem Vorsitzenden zu suchen. Im Moment werden Friedrich Merz die besten Chancen eingeräumt, der nicht so ihr Favorit war, weil sie ihn nicht als Verkörperung von Aufbruch und Moderne sehen. Wie sehen Sie das, wenn er jetzt doch kommt?
Söder: Wir sind alle froh, dass der Prozess der Neufindung abgeschlossen wird mit einem neuen CDU-Vorsitzenden. Nach diesem schwierigen Jahr müssen wir in der Union alles tun, um wieder stärker zusammenzuwachsen. Der neue CDU-Vorsitzende und ich als CSU-Vorsitzender wissen, dass der Zusammenhalt verbessert werden kann. Wer die CDU künftig führen soll, ist allein Sache der CDU-Mitglieder. Egal, wer es wird: Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit. Wir haben völlig neue Herausforderungen mit der Ampel, für uns als Bayern besonders. Dass es keinen einzigen bayerischen Bundesminister in der neuen Regierung gibt, ist schon bemerkenswert.
Sie haben sich im Wahlkampf zumindest schwergetan mit der Zusammenarbeit mit Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Warum?
Söder: Es ist uns nicht gelungen, den Eindruck zu zerstreuen, wir würden nicht gemeinsam an einem Strang ziehen. Das müssen wir uns vorwerfen lassen. Wir hätten uns an einigen Stellen auch eine noch pointiertere inhaltliche Darstellung vorstellen können. Ich habe das einmal „Schlafwagen-Wahlkampf“ genannt, aber das war auch auf CDU und CSU als gesamte Union bezogen. Leider wurde dies falsch interpretiert, das war allerdings nicht der entscheidende Aspekt. Unsere Analysen zeigen, dass die Gründe für das Gesamtergebnis deutlich tiefer lagen.
Was heißt „uns gelang es nicht“? Ihnen persönlich ist es doch nicht gelungen, den Eindruck zu erwecken, dass Sie Armin Laschet unterstützen.
Söder: Uns allen, natürlich auch den Generalsekretären und mir. Zu den Besonderheiten dieses Wahlkampfs gehört doch, dass es in der Berichterstattung sehr viel um Nebensächlichkeiten ging: um Lebensläufe, um Lacher, um interne Gemengelagen. Und am Ende hat Olaf Scholz gewonnen, weil sich kaum einer über ihn unterhalten hat.
Kommen wir zur Landtagswahl 2023. Ist das Ziel der CSU da wieder die absolute Mehrheit?
Söder: Absolute Mehrheiten gibt es heute in Europa eigentlich nur noch in den Ländern, die den Umgang mit der Medienfreiheit wesentlich anders interpretieren als wir. Wir sind eine plurale Gesellschaft, die immer vielfältiger wird. Bayern ist ein Land mit enormem Zuzug. Ganze Generationen junger Menschen kommen neu zu uns, haben aber unterschiedliche Einstellungen und Erwartungen. Zudem gibt es, anders als vor 20 Jahren, breitere Angebote im bürgerlichen Parteienspektrum. Es gibt die FDP, die Freien Wähler und – deutlich rechts vom bürgerlichen Lager – auch eine AfD. Entscheidend ist, stabil und selbstbestimmt zu regieren. Es ist zudem spannend, wie die Ampel agieren wird. Viele Menschen werden erkennen, dass es die CSU ist, die für Bayern steht. Das wird ein neues Bayern-Gefühl. Unsere Aufgabe als Volkspartei wird sein, sowohl Stammwählern als auch neuen Wählern gute Angebote zu unterbreiten.
Dann braucht man ja vielleicht doch wieder einen Koalitionspartner. Das wären aus Ihrer Sicht gern wieder die Freien Wähler – Herr Aiwanger ist ja jetzt auch geimpft. Oder?
Söder: Wir haben uns alle sehr gefreut, dass Hubert Aiwanger sich hat impfen lassen. Ja, die Freien Wähler sind unser bevorzugter Partner. Es gibt immer wieder kleine Unterschiede, aber im Grundsatz arbeiten wir gut zusammen. Die Grünen und die FDP haben sich nun ohnehin für einen anderen Weg entschieden. Der Ausgang des Experiments Ampel ist völlig offen, manche Positionen scheinen unvereinbar.
Wenn Sie gegen die Ampel in Berlin austeilen, geht es um Themen wie: kein Wahlrecht mit 16, keine Cannabis-Freigabe, keine Gender-Gesetze. Böse formuliert könnte man sagen: Modern und sexy kommt die CSU, wie Sie es vor einem Jahr ja noch als Ziel formuliert haben, nicht mehr daher …
Söder: Was soll an Drogen sexy sein? Wer Drogen sexy findet, fällt zurück in Woodstock-Zeiten – mich hat Woodstock gesellschaftspolitisch nicht begeistert. Für uns sieht eine verantwortungsvolle und zukunftsorientierte Politik völlig anders aus. Wenn Sie sich mal anschauen, was wir bei Technologie, Innovation, Digitalisierung und gleichzeitig Naturschutz anbieten, stellen Sie fest: Wir sind hochmodern. Das ist eine nachhaltige Politik mit Zukunft. Ein Wahlalter mit 16 Jahren ist dagegen aus unserer Sicht nicht schlüssig. Einen Kühlschrank kann man zum Beispiel erst mit 18 kaufen, aber wählen soll man mit 16? Das ergibt keinen Sinn.
Lassen Sie uns noch einmal zurückblicken. Angela Merkel hat jetzt ein bisschen überraschend angekündigt, dass sie ein Buch schreiben will. Was wird wohl über Sie in diesem Buch stehen?
Söder: Schwer zu sagen, vermutlich wird sie das Buch international anlegen. Aber falls sie wirklich etwas über mich schreiben sollte, dann wahrscheinlich über unsere unterschiedlichen Phasen. Es gab eine Phase, in der alles ein bisschen schwieriger war – und viele Phasen, in denen die Zusammenarbeit wirklich sehr eng war, vor allem bei Corona. Ich habe Angela Merkel sehr zu schätzen gelernt: ihre Verlässlichkeit, ihre Souveränität und manchmal auch als Mutmacherin. Gerade in schwierigen Phasen, etwa auf dem Höhepunkt der Corona-Wellen, hinterfragt man sich noch mehr als sonst, ob das alles richtig ist. Dann schreibt man auch mal am Abend eine SMS, in der steht: „Ich bin in großer Sorge.“
Und hat die Kanzlerin geantwortet?
Söder: Ja, ich nenne das immer Konfuzius-SMS, weil sie viel Lebensweisheit enthalten. Das hat mir oft sehr geholfen. Und das war übrigens auch der Grund, warum ich Angela Merkel damals an den Chiemsee eingeladen habe. Es war ein Dankeschön, wir hatten es ihr ja nicht immer ganz leicht gemacht. Es war ein wundervoller Tag. Damals hieß es außerhalb Bayerns: Das sei unmöglich, so ein Riesenpanorama. Aber wir haben an dem Tag weder das Wetter selbst gemacht noch haben wir den Chiemsee extra eingefüllt, und auch Schloss Herrenchiemsee stand schon vorher da. Aber wenn tolle Gäste kommen, packt man eben das beste Geschirr aus – und da hat Bayern einfach viel zu bieten.
Wie muss man sich einen Konfuzius-Spruch à la „Merkel sagt …“ vorstellen?
Söder: Es gab zum Beispiel endlose Diskussionen in Koalitionen, da fragte ich sie: „Wie hält man es eigentlich aus mit ständig wechselnden Koalitionen?“ Sie sagte: „Man muss vergessen können.“ Oder zum Thema Regieren: „Regieren heißt leiden.“ Das sage ich auch immer den Freien Wählern. Oder manchmal auch mir selbst, wenn man wieder ein kleines bisschen schwankt in seiner überschwänglichen Freude über den Koalitionspartner (lacht).