Nach drei Jahren enden an Ostern die letzten Corona-Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz, allen voran die Maskenpflicht in Arztpraxen. Sind Sie glücklich darüber, dass der Ausnahmezustand in der Pandemie endgültig zu Ende geht?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist gut, dass jetzt die Infektionsschutzgesetz-Regelungen auslaufen. Sie haben zweieinhalb Jahre lang unser Leben ganz entscheidend geprägt, teils mit notwendigen, teils mit überzogenen Einschränkungen. Es wäre falsch, diese Regelungen mit Blick auf eine mögliche neue Pandemie beizubehalten. Stattdessen sollten wir uns rückblickend mit den einzelnen Maßnahmen, dem Agieren der Politik und den Problemen während der Pandemie auseinandersetzen und überlegen, was wir für ähnliche Krisen der Zukunft lernen können.
Sie zählten zu den ganz wenigen Politikern, die schon zu Beginn der Pandemie den Finger gehoben hatten und warnten, tiefgreifende Maßnahmen wie die Ausgangssperren seien nicht durch die Verhältnismäßigkeit gedeckt. Damals sind Sie kritisiert worden, später sah es das Bundesverwaltungsgericht genauso ...
Leutheusser-Schnarrenberger: Man sollte auch im Rückblick nicht als Besserwisser unterwegs sein. In den ersten Monaten der Pandemie wusste man zu wenig über die Gefährlichkeit des Coronavirus und war im Blindflug unterwegs. Man wollte retten, was zu retten ist. Aber dennoch gilt es auch in solch schwierigen Situationen zu überdenken, was tiefgehende Beschränkungen mit den Menschen machen und ob man Entscheidungen erklären kann. Die Ausgangsbeschränkungen, das bayerische Verbot, einsam auf einer Parkbank zu sitzen oder die mit Absperrbändern verschlossenen Kinderspielplätze haben uns allen verdeutlicht, dass das Wort Verhältnismäßigkeit nicht nur ein Begriff für ein paar Verfassungsjuristen ist, sondern eine ganz wichtige Bedeutung für die Freiheit der Menschen hat. Es ist gut, wenn dies die Justiz immer wieder klarstellt.
Der Riss in der Abwägung zwischen Freiheit und Grundrechten ging quer durch die Parteien. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte, der Staat habe die Aufgabe, jedes Leben zu schützen und, wenn es geht, zu retten. Der damalige CDU-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble betonte, dem Schutz von Leben in der Krise könne nicht alles untergeordnet werden. Hilft die Verfassung aus diesem Dilemma?
Leutheusser-Schnarrenberger: Eine Rangordnung, dass alles dem Schutz des Lebens unterzuordnen ist, gibt es in unserem Grundgesetz nicht. Aber die Grundrechte helfen in einer Krise, weil sie in Deutschland auch bei Katastrophen nicht außer Kraft gesetzt werden können. Grundrechte sind nicht nur für Schönwetterzeiten da, sie entfalten vor allem dann ihre Wirkung, wenn sie bedroht sind. Und deshalb muss man Einschränkungen in das Recht auf Schulbildung, in die Bewegungs-, Versammlungs- oder Berufsausübungsfreiheit gerade auch in der Krise besonders gut begründen. Spätestens nach der ersten Pandemiewelle lagen immer mehr Fakten vor, weshalb man die späteren Einschränkungen stärker kritisieren kann als die Entscheidungen, die in ersten Monaten in einer Zeit der Unsicherheit getroffen wurden.
Auch in den weiteren Wellen gab es große Zustimmung in der Bevölkerung für eine harte Linie, nur eine Minderheit tendierte mehr zur Freiheit. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Leutheusser-Schnarrenberger: Wenn Menschen Angst haben und durch Ereignisse von außen verunsichert sind, die sie selbst nicht beherrschen können, neigen viele dazu, Freiheitsrechte zur Debatte zu stellen. Das ist nicht nur bei der Bedrohung durch ein unsichtbares Virus so, sondern oft bei Wellen der Kriminalität. Da herrscht in Deutschland bei der Mehrheit oft das Gefühl vor, jetzt muss der Staat ran, um die Menschen zu schützen und Freiheiten könnten zurückstehen. Diesen Mechanismus habe ich mein ganzes politisches Leben immer wieder erlebt: Man gerät schnell in eine Minderheitenposition, wenn man darauf dringt, dass man mit Freiheitsrechten ganz vorsichtig und behutsam umgehen muss. Das war auch beim großen Lauschangriff so. Die öffentliche Meinung ändert sich meist, wenn das Verfassungsgericht entscheidet. Dann ist die Mehrheit froh, dass es am Ende doch wieder stärkere Grundrechte gibt. Deshalb ist es notwendig, immer wieder für die Bedeutung der Freiheitsrechte einzustehen, für sie zu werben und zu verdeutlichen, wie wichtig sie für unsere Gesellschaft und für uns alle sind.
Aber hat das in der Pandemie funktioniert? Bis das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen getroffen hat, verging viel Zeit …
Leutheusser-Schnarrenberger: Schnellere Entscheidungen wären sicher kein Fehler gewesen, aber das Verfassungsgericht hat viele aus dem Moment der Krise getroffene politische Entscheidungen nicht beanstandet. In den Instanzen darunter gab es aber zuvor immer wieder vorsichtige Korrekturen beim Versammlungsrecht oder Gottesdiensten, die auch in der Pandemie mit Auflagen im Sinne der Religionsfreiheit erlaubt werden mussten. Insgesamt hat die Rechtsprechung auch in der Krise funktioniert.
Die Pandemie war für die Gewaltenteilung nicht nur für die Justiz eine Belastungsprobe. Regierungschefs und der Bundesgesundheitsminister erhielten eine hohe Machtfülle, die Parlamente konnten meist nur noch abnicken …
Leutheusser-Schnarrenberger: Mit sogenannten Verordnungsermächtigungen wurden die Entscheidungen sehr einseitig und weitgehend auf die Regierungen, also die Exekutive verlagert und die Parlamente blieben relativ weit außen vor. Es wurde, wie man so sagt, durchregiert. Am Anfang ging es sicher um Schnelligkeit. Aber insgesamt muss uns dieses Vorgehen sehr nachdenklich machen. Verordnungsermächtigungen sind nicht dazu gedacht, ganze Bereiche mit tiefen Grundrechtseingriffen, die weit über den Gesundheitsbereich hinausgehen, zu regeln. Wir sollten daraus lernen, dass man grundlegende Entscheidungen in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren treffen muss, beschleunigt aber auf demokratische Weise. Dann kann man auch besser Sachverständige einbinden, die einen möglicherweise rechtzeitig auf Fehler hinweisen.
Heute besteht Einigkeit darin, dass einer der größten Fehler der Umgang mit den Kindern und Jugendlichen war – vor allem mit den langen Schulschließungen. Hätten man dies zum Beispiel durch eine bessere Einbindung der Parlamente verhindern können?
Leutheusser-Schnarrenberger: Gerade, was Schulen und Kitas anging, aber auch die Universitäten, sehen wir, dass die jungen Menschen bis heute unter den Nachwirkungen der in der Pandemie getroffenen Entscheidungen leiden. Es gab durchaus Fälle, wo Schulministerinnen nur auf großen Druck widerstrebend den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz gefolgt sind und Entscheidungen für falsch hielten. Man ist oft zu schnell über kritische Stimmen hinweggegangen. Auch hier gilt, dass man die ersten Monate anders als den Rest der Pandemie beurteilen muss. Doch die viel zu langen Schulschließungen sind ein Beispiel, wo andere Entscheidungsverfahren mit besserer Einbeziehung von Fachleuten und mit den Parlamenten uns vor Fehlern hätten bewahren können. All das muss uns zum Nachdenken bringen, damit Vergleichbares nicht noch einmal passiert.
Welche Lehren sollte man daraus ziehen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Man hätte in der Pandemie von Anfang an einen Sachverständigenrat einrichten sollen, der aus unterschiedlichen Fachrichtungen besetzt ist, eben auch mit Fachleuten aus der Kindermedizin und der Psychologie. Die Politik zählt ja auch in Nicht-Krisenzeiten auf Sachverständige. Ich glaube, es ist noch zu früh, um aus der Pandemie allgemeingültige Konsequenzen für andere Herausforderungen, etwa die Klimakrise, zu ziehen. Aber eine Lehre lautet sicher: Wir sollten dem Einzelnen sehr viel mehr zutrauen. Und wir sollten den Einzelnen auch nicht überfordern. Zum Beispiel zeigt sich heute umso mehr, dass es eine sehr gute Entscheidung des Bundestags war, keine Impfplicht zu beschließen. Ich werbe für das Impfen und bin viermal geimpft. Aber diese Entscheidung muss man dem Einzelnen überlassen. Und man darf es nicht einfach abtun, wenn eine solche Entscheidung für viele Menschen tief ins Emotionale geht.
Zur Person: Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war von 1992 bis 1996 und von 2009 bis 2013 Bundesjustizministerin. Die 71-jährige Patentrechtsjuristin war lange Jahre bayerische FDP-Chefin und ist seit 2019 Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs.