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Interview: Klaus von Dohnanyi: "Mehr Mut, ihr Europäer!"

Interview

Klaus von Dohnanyi: "Mehr Mut, ihr Europäer!"

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    Klaus von Dohnanyi hält Sanktionen gegen Moskau für den falschen Weg. Gleichzeitig warnt der Sozialdemokrat davor, die Ukraine in die Nato aufzunehmen.
    Klaus von Dohnanyi hält Sanktionen gegen Moskau für den falschen Weg. Gleichzeitig warnt der Sozialdemokrat davor, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Foto: Markus Scholz, dpa

    Herr Klaus Dohnanyi, ich denke, eine Lage, die wir jetzt durch die Corona-Pandemie haben, haben Sie noch nicht erlebt. Wie gehen Sie mit den Einschränkungen um?

    Klaus von Dohnanyi: Ich habe in meinem langen Leben schon viele Einschränkungen erlebt, besonders in meiner Jugend. Es gab eine Zeit, da konnte man die nahesten Verwandten nur gelegentlich hinter Gefängnisgittern sehen. Heute sind die Einschränkungen nur physisch: Man bleibt zu Hause, aber kann mit der ganzen Welt reden, ja sogar sich sehen. Schwierige Zeiten dennoch, besonders für Familien, für die engagierten Kräfte in den Krankenhäusern, für die immer ungeduldige Jugend. Aber in meinem Alter, finde ich, kommt man damit gut zurecht. Es gibt Schlimmeres.

    Klaus von Dohnanyi ist davon überzeugt, dass der EU-Austritt der Briten auch auf "zentralistische Gleichmacherei"  Brüssels zurückzuführen ist.
    Klaus von Dohnanyi ist davon überzeugt, dass der EU-Austritt der Briten auch auf "zentralistische Gleichmacherei" Brüssels zurückzuführen ist. Foto: Aaron Chown, dpa

    Sie haben ein Buch in dieser schwierigen Zeit geschrieben. Was war der Auslöser für „Nationale Interessen“? Gab es einen bestimmten Moment?

    Dohnanyi: Es gab einen tieferen Grund und einen aktuellen Auslöser. Zunächst: Ich habe in meinen langen aktiven Jahren immer wieder mit Erstaunen gesehen, wie selten wir in unserer europäischen und auch internationalen Politik bereit sind, nüchtern unseren Erkenntnissen und Interessen zu folgen. Ich hatte zum Beispiel schon in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts erkennen müssen, dass der Versuch, Europa über eine zentralistische Gleichmacherei zu vereinen, scheitern werde; deswegen löste nämlich einst de Gaulle Frankreich auf Zeit aus den europäischen Beratungen heraus; und kürzlich verließ dann Großbritannien aus eben diesem Grunde die EU.

    Und wie lautet der aktuelle Auslöser?

    Dohnanyi: Aber aktuell beunruhigt mich immer mehr das leichtfertige Gerede der Nato im Ukraine-Konflikt. Ich habe Ende der 1970er Jahre in Vertretung von Bundeskanzler Schmidt eine Nato-Übung geleitet und gesehen, dass es vonseiten der USA keine nukleare Abschreckung gegenüber Russland gab – und nie geben wird: Die USA folgen nämlich einer Strategie der sogenannten „flexiblen Antworten“, des „flexible response“. Sie haben offiziell erklärt, dass ihre strategischen nuklearen Waffen nur bei einem entsprechenden Angriff auf die USA selbst eingesetzt würden. Biden hat das kürzlich ausdrücklich bestätigt. Das aber heißt, Europa könnte nur in einem zerstörerischen Bodenkrieg verteidigt werden, bei dem die USA selbst völlig unbeschädigt blieben. Die ungehemmte Erweiterung der Nato hat aber dazu geführt, dass jetzt im Ukrainekonflikt Russland sogar als Verbündeter Chinas auftreten kann – und Europa „schlafwandelt“ schnurstracks in diese Gefahren!

    Wie soll der Westen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin umgehen, der über 100.000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt hat?
    Wie soll der Westen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin umgehen, der über 100.000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt hat? Foto: Alexei Nikolsky, AP/dpa

    Sie sind der Ansicht, dass man mit Russland anders umgehen sollte. Ist es nicht aber so, dass eine Verständigung so lange ad absurdum geführt wird, wie Präsident Wladimir Putin am Ruder ist? Wir haben ja gerade erlebt, dass sogar die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten worden ist.

    Dohnanyi: Ich beginne mein Buch mit einem Motto: „Gehe von deinen Beständen aus und nicht von deinen Parolen!“ Es geht um die Sicherheit Deutschlands und Europas, nicht um Putin oder Russland. Was zählt, ist die Verantwortung für unsere Zukunft. Für Russlands Zukunft können wir nicht verantwortlich sein, da überheben wir uns. Wir können einzelnen Verfolgten in der Welt – auch russischen – versuchen zu helfen, wie in Zeiten Willy Brandts und Helmut Schmidts oder kürzlich, als Angela Merkel die Aufnahme und Heilung Navalnys in einem deutschen Krankenhaus ermöglichte. Hilfe im Einzelnen immer; dafür habe ich unter anderem in Hamburg die „Stiftung für politisch Verfolgte“ gegründet. Russland aber muss sich selbst erneuern. Sanktionen haben nie etwas bewirkt. Sie dienen allzu oft nur der innenpolitischen, moralischen Selbstbestätigung.

    Ist es nicht eher so, dass sich Putin eigentlich gar nicht eingekreist fühlt, sondern Schritt für Schritt alte Positionen der Sowjetunion zurückgewinnen will?

    Dohnanyi: Das mag sein. Einflussgebiete zu gewinnen, das machen die USA doch gerade auch in Asien. Jedes Land hat ein eigenes Verständnis seiner Sicherheitsinteressen. Und das russische Sicherheitsverständnis ist eben das russische. Putin geht es aber wohl heute in erster Linie um die Ukraine und nicht um eine Rückkehr zu den Ergebnissen der Konferenz von Jalta im Jahr 1945. Damals haben es übrigens die USA, sogar gegen den Rat des Europäers Churchill, Stalin ermöglicht, das russische Imperium in Form des Warschauer Paktes auf das Baltikum, Polen, Ungarn und andere Staaten Mitteleuropas auszudehnen. Aber die Ukraine hatte Russland nicht durch Jalta gewonnen! Die Ukraine war lange russisches Staatsgebiet. Haben wir denn aus der Krimkrise nicht gelernt, was die Aufnahme der Ukraine in die Nato heute bedeuten könnte?

    Die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato steht ja eigentlich gar nicht zur Debatte. Mit welchem Recht könnte die Nato dem Land aber tatsächlich die freie Bündniswahl verweigern?

    Dohnanyi: Entschuldigen Sie, aber das ist zum einen einfach falsch: Noch am 21. Juni 2021 bekräftigte der Nato-Rat auf Ebene der Regierungschefs, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen werde. Über den Zeitpunkt kein Wort. Morgen? Übermorgen? Und zum anderen: Niemand hat das Recht, einem Bündnis beizutreten, wenn damit das Bündnis seine eigenen Interessen, besonders seine eigene Sicherheit gefährden könnte . Ich höre oft, jeder Staat habe das Recht, in jedes Bündnis einzutreten, das er wähle. Aber das ist doch eine völlig unsinnige These! In einem Bündnis wie der Nato gibt es doch immer beides: Diejenigen, die jetzt Mitglied sind und diejenigen, die hineinwollen. Beide Seiten haben ein Entscheidungsrecht! Die EU und Deutschland sind dabei für uns verantwortlich und nicht in erster Linie für die Ukraine; die müsste auch gegenüber Russland selber eine Politik der Verständigung und des Interessenausgleichs betreiben. Für die dortigen Nationalisten ist das nicht immer einfach, allerdings.

    Sie plädieren in Ihrem Buch auch für einen sachlich-realistischen Umgang mit China. Heißt das, dass wir nicht offen benennen sollen, dass Hunderttausende von Uiguren in Lagern sind und dort gequält, vergewaltigt oder sogar getötet werden?

    Dohnanyi: Bei der Durchsetzung von Menschenrechten geht es mir immer um Ergebnisse, nicht um moralisierende Selbstbestätigung. Könnten wir an der Lage der Uiguren wirklich etwas grundsätzlich ändern, wäre ich für jeden solchen Schritt. Aber nur öffentliches Getöse zur Selbstbestätigung halte ich für falsch; steht ja ausführlich in meinem Buch. Ich finde es wichtiger, durch ständige Kontakte mit China auch dort das Interesse an Kooperation – zum Beispiel im Klimaschutz – zu stärken, anstatt immer nur moralisch belehrend aufzutreten. Wie viele Uiguren wäre Europa denn bereit aufzunehmen?

    Die Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees, Aase Lionaes, überreicht Bundeskanzler Willy Brandt am 10. Dezember 1971 in Oslo Urkunde und Medaille des Friedensnobelpreises.
    Die Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees, Aase Lionaes, überreicht Bundeskanzler Willy Brandt am 10. Dezember 1971 in Oslo Urkunde und Medaille des Friedensnobelpreises. Foto: dpa (Archivbild)

    Ist es wirklich so, dass Europa so etwas aus opportunen Gründen nicht mehr direkt ansprechen sollte? Geht da nicht etwas von dem kaputt, was Willy Brandt bei allem Pragmatismus immer hochgehalten hat? Also ein Grundkonsens westlicher Werte?

    Dohnanyi: Die westlichen Werte leben von Ergebnissen, nicht von wortreichen Erzählungen. Willy Brandt hat mit den sowjetischen Tyrannen, im Vergleich zu denen Putin ja heute wie ein demokratischer Waisenknabe erscheint, immer höflich gesprochen. Er schreibt einmal, er habe damit auch wissentlich westliches Vertrauen riskiert. Aber er hat damals eben auch menschenrechtlich immer wieder viel erreicht. Solchen Mut brauchen wir auch heute. Ich bin im deutschen Widerstand gegen die Nazis aufgewachsen und habe gesehen, wie mein Vater verfolgte Juden gerettet hat, auch indem er dabei Nazigrößen hinters Licht führte. Ich habe also etwas gegen das leichtfertige und ergebnislose moralische Geplapper und die gleichzeitige Verweigerung eines höflichen Gesprächs auf Augenhöhe mit den Autokraten.

    Der bisherige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, fordert „Konfliktprävention sowohl durch Abschreckung als auch durch Diplomatie“. Ist das nicht eine praktikable Strategie?

    Dohnanyi: Da habe ich nichts dagegen – außer, dass eben nukleare Abschreckung ein Mythos ist; siehe die Ergebnisse der Krimkrise. Und: Diplomatie darf sich nicht darin erschöpfen, die eigene Meinung mit dem Ziel vorzutragen, dass man selbst recht hat und die andere Seite ohnehin im Unrecht sei. Diplomatie hat nur Sinn, wenn man auch zu konstruktiven Kompromissen bereit ist. Diese Bereitschaft sehe ich leider auch auf Nato-Seite gegenwärtig nicht.

    Sie propagieren, dass Europa lernen muss, auf eigenen Beinen zu stehen. Derzeit wird aber in der Ukraine-Krise über Europa hinwegverhandelt. Was muss sich ändern?

    Dohnanyi: Macron macht uns das gerade vor. Die Länder, die eine andere Russlandpolitik wollen, müssen sie selber machen, wie damals Willy Brandt. Dann werden schon andere folgen. Europa wird in dieser Frage auf absehbare Zeit nicht mit einer Stimme sprechen können . Deswegen wäre eine offizielle Teilnahme der EU auch aus meiner Sicht nicht wünschenswert. Polen verhandelte ja auch bilateral mit den USA über erweiterte Nato-Möglichkeiten. Dann sollten Frankreich und Deutschland auch mit Russland über Entspannung reden dürfen. Mehr Mut, ihr Europäer!

    Klaus von Dohnanyis aktuelles Buch "Nationale Interessen".
    Klaus von Dohnanyis aktuelles Buch "Nationale Interessen". Foto: Verlag

    Sie sind Sozialdemokrat. Aber Ihr Verhältnis zur SPD war – gelinde gesagt – oft nicht einfach. Wie haben Sie den sensationellen Wahlsieg Ihrer Partei und von Olaf Scholz erlebt? Waren Sie nicht völlig perplex am Wahlsonntag?

    Dohnanyi: Ich war und bin ein treuer Sozialdemokrat, seit nunmehr 65 Jahren. Und oft habe ich mit meiner Meinung am Ende auch recht behalten. Der Wahlsieg von Scholz am Abend des Wahltages hat mich nicht überrascht, zu diesem Zeitpunkt war er ja zu erwarten. Erstaunlich und bewundernswert war aber das Aufblühen der Sozialdemokraten während des Wahlkampfes; eine großartige Leistung von Scholz und seinem Team!

    Sie haben Ihr aktuelles Buch nicht gegendert. Was ist Ihre Position in dieser hoch kontroversen Angelegenheit?

    Dohnanyi: Schon meine Mutter war eine sehr eigenwillige, mutige und doch fürsorgliche Frau. Mich interessiert das Gendern persönlich nicht.

    Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht. Jetzt sind Sie 93 Jahre alt. Wie sehen Ihre Pläne aus?

    Dohnanyi: Das liegt in Gottes Hand.

    Zur Person: Klaus von Dohnanyi, 93, ist seit 1957 Mitglied der SPD. Der Jurist hatte in der Politik viele Ämter inne. So war er unter anderem Bundeswissenschaftsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt sowie Erster Bürgermeister von Hamburg. Am heutigen Montag erscheint sein Buch „Nationale Interessen“ im Siedler Verlag, 240 Seiten.

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