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Interview: Warum sind Sie immer noch SPD-Mitglied, Frau Zeh?

Interview

Warum sind Sie immer noch SPD-Mitglied, Frau Zeh?

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    Juli Zeh ist auch Verfassungsrichterin in Brandenburg. Sie fordert „weniger Hysterie und mehr Sachlichkeit“.
    Juli Zeh ist auch Verfassungsrichterin in Brandenburg. Sie fordert „weniger Hysterie und mehr Sachlichkeit“. Foto: Emmanuele Contini, Imago

    Frau Zeh, vor einigen Jahren bereits haben Sie einen ziemlich düsteren Zukunftsroman veröffentlicht, „Leere Herzen“, in dem die Rechte in Deutschland an der Macht ist und dazu eine Innenministerin namens Wagenknecht. Wie düster ist unsere Gegenwart nun in der Realität – mit den Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen und Umfragen in ihrer Wahlheimat Brandenburg, die die AfD als stärkste Partei zeigt?
    JULI ZEH: Die Wahlergebnisse sind unerfreulich. Aber wir sollten die Lage trotzdem nicht apokalyptisch sehen, denn die Wirklichkeit ist ja kein Roman. Eins haben aber die Wahlen mit der Literatur gemeinsam: Wenn man möchte, kann man etwas daraus lernen. Es ist höchste Zeit, im politischen Reden und Handeln zur Vernunft zurückzukehren, anstatt ein permanentes gegenseitiges Bashing zu betreiben. Andernfalls werden die Wähler weiterhin Populisten wählen, statt den traditionellen Parteien ihr Vertrauen zu schenken.

    Einerseits ist immer wieder die Rede davon, wir müssten unsere Demokratie retten - vor einer Partei, die diese auszuhöhlen drohe. Andererseits wird genau diese Partei bei einer ja demokratischen Wahl zur stärksten Kraft. Wie ist das Dilemma zu lösen? Müssen wir uns tatsächlich um unsere Demokratie sorgen?
    JULI ZEH: Es führt nicht weiter, so zu tun, als sei die Demokratie kurz vor dem Untergang, wenn eine Partei stärker wird, die viele von uns aus guten Gründen schrecklich finden. Das Problem ist nicht, dass die AfD die Demokratie abschafft. Sondern dass sie ein Programm vertritt, das in vielen Teilen einem modernen und humanistisch geprägten Weltbild widerspricht. Dass ein Drittel der Menschen dieser Partei trotzdem zutraut, für Deutschland eine gute Zukunft zu bauen, ist ein politisches Problem, das mit politischen Mitteln gelöst werden muss. Es gibt riesige Baustellen, sei es das marode Bildungssystem, das kippende Gesundheitswesen, Wohnungsnot, Inflation, schlechter öffentlicher Nah- und Fernverkehr und so weiter. Überall wurde privatisiert und kaputtgespart.

    Es gibt ja doch eine gewisse Schnittmenge zwischen Ihrer Beschreibung der deutschen Gegenwart im Roman „Zwischen Welten“ und Wagenknechts Abrechnungsbuch „Die Selbstgerechten“: Die verhängnisvolle Ferne von politisch und medial ziemlich bestimmenden, vermeintlich idealistisch-progressiven Großstädtern im Westen, die sich um Genderneutralität und Klimarettung, von der Lebensrealität außerhalb in weiten Teilen der deutschen Wirklichkeit, nicht nur, aber gerade auch im Osten und auf dem Land. Und es eint Sie doch auch das Drängen darauf, all die dadurch Enttäuschten und Wütenden wieder anzusprechen, sie gerade im Sinne der Demokratie nicht der AfD zu überlassen – Frau Wagenknecht hat gerade das ja zum politischen Programm ihres Bündnisses gemacht. Und wie ist Ihr Blick auf die wirkliche Frau Wagenknecht und ihr Bündnis?
    JULI ZEH: Ich kenne Frau Wagenknecht persönlich nicht sehr gut, und inwieweit das BSW konstruktive Politikvorschläge für die Zukunft unseres Landes macht und im Zweifel auch umsetzen kann, wissen wir noch nicht, weil die Partei sehr jung und in gewisser Weise eine Wundertüte ist. Falsch ist, Frau Wagenknecht und das BSW jetzt in eine Schublade mit der AfD zu stecken, sie zu dämonisieren und als verlängerter Arm Moskaus oder ähnliches zu diffamieren. Das wird keinen einzigen Wähler dazu bringen, sich für eine andere Partei zu entscheiden. Ganz im Gegenteil. Politik ist ein Wettkampf um den besten Vorschlag und nicht um die krasseste Beleidigung.

    Es mag heute ja, in West wie Ost, einen bestimmten Prozentsatz an Menschen geben, die eine gefestigt rechtsextreme Gesinnung haben. Wahlergebnisse von mehr als 30 Prozent lassen sich damit aber kaum erklären. Helfen Sie uns bitte: Was macht die AfD für so viele Bürgerinnen und Bürger so interessant? Ist es vor allem ein ostdeutsches Phänomen? Und wenn so - warum ist die AfD gerade dort so stark?
    JULI ZEH: Wenn es ein ostdeutsches Problem wäre, würde wir den Rechtspopulismus wohl nicht in vielen anderen Ländern Europas und in den USA beobachten können. Diese deutschland-fixierte Analyse ist naiv und nicht besonders clever. Um es möglichst kurz zu sagen: Die sogenannten Eliten haben eine Menge Vertrauen verspielt, weil sie bei den vielen Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht darauf geachtet haben, wer die Kosten und Lasten des Wandels zu tragen hat, sei es in Folge der Globalisierung, bei der Pandemiebkämpfung oder im Zuge der Energiewende. Wenn Leute sich dann beschwert haben, hat man ihnen vorgeworfen, die Ziele in Frage zu stellen oder zu „leugnen“, anstatt sich anzugucken, wen die jeweiligen Maßnahmen belasten und wen sie begünstigen. Diese Form der Blindheit hat zu Wut und Enttäuschung geführt, die sich jetzt entlädt.

    Sie bleiben weiterhin SPD-Mitglied?
    JULI ZEH: Ja. Ich bin Sozialdemokratin durch und durch. Was nicht heißt, dass ich mit den Entscheidungen und Äußerungen der SPD immer einverstanden sein muss.

    Gibt es für die Sozialdemokraten denn noch Hoffnung? Und wenn ja, wie heißt die? Klingbeil oder Kühnert? Oder braucht es einen programmatischen Neuanfang?
    JULI ZEH: Für die Sozialdemokratie gibt es immer Hoffnung, weil sie die Antwort auf die Frage ist, wie Menschen am besten zufrieden zusammenleben können. Nämlich indem man sich wieder und wieder bemüht, Gemeinschaftsaufgaben möglichst gerecht zu erledigen und möglichst weitreichende Chancengleichheit herzustellen. Wenn sich die SPD an diese Aufgabe erinnert und sie tatkräftig umsetzt, wird man sie auch wieder wählen.

    Allenthalben heißt es, nun nur noch mal verschärft durch die Landtagswahlen, die Ampel habe versagt, sie sei am Ende. Aber was wäre die bessere Koalition? Die Zeiten von homogenen Bündnissen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün scheint ja vorbei, die GroKo wollte keiner mehr und alle gemeinsam, bloß um die AfD zu verhindern, könnte erst recht fatale Folgen haben …
    JULI ZEH: Die Ampel ist keine Liebesheirat, sondern das Produkt von Wählerverhalten. Das Gleiche wird jetzt in Thüringen und Sachsen und bald in Brandenburg passieren: Parteien, die eigentlich nicht zusammenpassen, müssen zusammen regieren, weil die AfD so groß geworden ist. Die Ampel hat es im negativen Sinne vorgemacht: Wenn man solche Bündnisse benutzt, um sich vor allem zu streiten und sich zu „profilieren“, anstatt den Pragmatismus für die dringend nötigen Lösungen zu entwickeln, dann gewinnen die Populisten immer weiter. Ich hoffe, dass man an dieser Stelle endlich klüger wird. Nichts außer sichtbarer und spürbarer guter Politik wird uns weiterhelfen.

    Sie sind ja auch Richterin am Brandenburger Verfassungsgericht. In zwei brisanten Fragen wird derzeit immer wieder über das Grundgesetz diskutiert: Muss es besser gegen mögliche Aushöhlungen durch politisch mächtiger werdende Demokratiefeinde geschützt werden? Und muss das in der Verfassung verankerte und darum juristisch zu klärende und nicht politisch zu regulierende Recht auf Asyl geändert werden, wie es etwa die Spitze der Union fordert? Wie ist Ihr Blick darauf?
    JULI ZEH: Es ist nicht so, dass die Union eine Abschaffung des Asyls fordert. Es geht vor allem um juristische Fragen zur Handhabung der Dublin-Abkommen, etwa die Frage nach der Zurückweisung an der Grenze, und da besteht Verbesserungs- und Reformbedarf, den man in Übereinstimmung mit dem Europarecht herbeiführen muss. Das kriegt man schon hin, wenn man die Asylfrage nicht für den Versuch benutzt, der AfD Stimmen abzuwerben, was sowieso nicht funktioniert. Und was den Schutz der Verfassungen betrifft: Auch hier bitte weniger Hysterie und mehr Sachlichkeit. Eine Sperrminorität der AfD kann an bestimmten Stellen zu Schwierigkeiten im politischen und juristischen Alltag führen, aber es wäre etwas übertrieben, darin eine „Aushöhlung“ der Verfassungen zu sehen.

    Auch an die politische Philosophin Juli Zeh gefragt: Kann Politik in bisherigen Strukturen der Gemengelage überhaupt noch gerecht werden? Zum Spagat zwischen globalen Krisen und kommunalen Notlagen, den der Nationalstaat aushalten soll; zum anderen eine steigende Komplexität der Verflechtungen bei stetig steigender Geschwindigkeit der potenziell disruptiven Entwicklungen - und das darum wachsende Bedürfnis der Menschen nach klaren und für Sicherheit sorgenden Antworten… Braucht es neue Formen, das zu lösen?
    JULI ZEH: Überhaupt nicht, weil es auch gar keine neuen Formen gibt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, das gemeinsame Leben unter vielen Menschen zu gestalten: entweder friedlich oder gewalttätig. Wenn wir uns für „friedlich“ entscheiden, dann wissen wir aus langer Erfahrung, dass die Demokratie der einzige Weg ist, der das garantieren kann. Sehr häufig erweisen sich demokratisch gefundene Lösungen auch als nachhaltiger und tragfähiger, weil sie nicht dem radikalen Willen oder der Angst von Einzelnen entspringen, sondern einem durch Kompromiss erzeugten gemäßigten Mittelweg entsprechen. Das Gefühl, die Aufgaben wären zu groß und Politik wäre nicht handlungsfähig, ist reines Kopfkino. Wenn der nötige Drive und Pragmatismus besteht, können Probleme auch im großen Stil angegangen werden.

    Wie kann man dem Gefühl vieler Menschen, die sich angesichts der politischen (Welt-)Lage überfordert fühlen, sinnvoll begegnen? Viele Bürgerinnen und Bürger, wir hören das regelmäßig von Lesern, wollen einfach gar keine Medien mehr konsumieren, flüchten ins Privatleben, wollen mit Politik nichts mehr zu tun haben. Wie sollen Medien, wie soll Politik darauf reagieren?
    JULI ZEH: Medien und Politik müssen aufhören, mit Angstszenarien, Apokalypsen, extremen Übertreibungen, hysterischer Rhetorik und beleidigenden Angriffen auf andere Diskursteilnehmer Aufmerksamkeit und Klicks generieren zu wollen. Auch wenn es das Geschäftsmodell von vielen Medien und der Profilierungswunsch von vielen Politikern ist – wer da mitmacht, versündigt sich am gesellschaftlichen Frieden. Ein klarer Blick auf die Realität, eine nüchterne Analyse, eine ehrliche Formulierung von Interessen sind Voraussetzung dafür, miteinander ins Gespräch zu kommen. Und daraus folgt dann die Möglichkeit von Lösungsansätzen. Jeder, der stattdessen Feindseligkeiten aussendet und versucht, das eigene Rechthaben zu demonstrieren, muss sich vorhalten, dass er einer besseren Zukunft im Weg steht.

    Und wie zuversichtlich sind Sie, ja auch als Mutter von zwei Kindern, dass wir auf eine gelingende, auf eine gute Zukunft zugehen? Bei allen zusätzlichen technologischen Unwägbarkeiten, die ja etwa, wie von Ihnen in „Corpus Delicti“ beschrieben“, auch Künstliche Intelligenz, die Datenkraken und die Vermarktung des Privatesten mit sich bringt?
    JULI ZEH: Ich bin sehr zuversichtlich. Denn uns steht vor allem die eigene Dummheit im Weg. Die ist zwar hartnäckig, aber man kann sie bezwingen. Wir sind immer noch eins der privilegiertesten Länder auf dem gesamten Globus, wir leben mit unfassbaren Geschenken und Segnungen. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, dass Mindset zu ändern. Aber wenn wir wieder konstruktiver, produktiver, optimistischer denken und handeln, anstatt uns gegenseitig zu misstrauen und zu behindern, dann können wir Großes leisten.

    Und sehen Sie sich als eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen des Landes mit Millionenpublikum in der Verantwortung, an einer gelingenden kritischen Reflexion mitzuwirken? Kann das noch gelingen, in multimedial so aufgeheizten Zeiten?
    JULI ZEH: Ich sehe mich stark in der Verantwortung, weshalb ich viele Interviews gebe und manchmal in Talkshows gehe. Ich weiß, dass außerhalb des medialen und politischen Getöses eine riesige Menge aus vernünftigen, ehrlichen, engagierten Menschen sitzt, den Kopf schüttelt und sich fragt, ob eigentlich alle verrückt geworden sind. Ich weiß, dass es für diese Mehrheit, die selten zu Wort kommt, weil sie nicht rumposaunt, sondern gemäßigt ist, total wichtig ist, dass Leute wie ich der Vernunft immer wieder eine Stimme geben. Darum mache ich das, und ich glaube fest daran, dass ich dadurch zu einer Verbesserung der Diskurslage beitragen kann.

    Welche Rolle spielen überhaupt die Medien in dieser gesellschaftlichen Entwicklung? Klassische Medien, Zeitungshäuser, Verlage kämpfen ja selbst mit Existenznöten zwischen einerseits klassischen Strukturen und Ansprüchen - und sind andererseits getrieben von neuen, digitalen Erfordernissen, bei ungewissem Ertrag?
    JULI ZEH: Aus meiner Sicht stehen die Medien in der Pflicht, ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden und ihren Auftrag zu erfüllen: gründliche Information der Bürger, möglichst objektive und überparteiliche Berichterstattung. Kein Aktivismus, kein Alarmismus, kein Click-Baiting. Wenn sie dann pleite gehen, müssen sie pleite gehen. Dann müssen in Konsequenz davon neue und bessere Wege für die gesellschaftliche Kommunikation entwickelt werden. Das klingt bestimmt hart, aber aus meiner Sicht gibt es dazu keine ethisch korrekte Alternative. Man kann sich nicht in ein Problem für die Demokratie verwandeln, um das eigene Überleben zu sichern. Und leider passiert genau das an vielen – nicht an allen – Stellen. Jeder Journalist sollte sich bei allem, was er tut, immer fragen, wem er gerade dient. Seinen digitalen Werbekunden oder den Menschen im Land?

    Und zuletzt natürlich: Verraten Sie, woran Sie arbeiten, was als Nächstes erscheinen wird?
    JULI ZEH: Leider kann ich dazu nichts sagen, weil ich zwar gerne über unsere gemeinsame Zukunft spreche, aber nicht so gern über die Zukunft meines persönlichen Schaffens.

    Juli Zeh, 50, heißt bürgerlich Julia Barbara Finck und stammt aus Bonn. Sie ist studierte Philosophin und promovierte Juristin – und eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen. Bereits ihr Debüt „Adler und Engel“ (2001) brachte ihr den Durchbruch. Zuletzt erschien von ihr (bei Luchterhand) der Roman „Zwischen Welten“ mit Co-Autor Simon Urban. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Dörfchen Barnewitz im Havelland.

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    2 Kommentare
    Wolfgang Leonhard

    Das Interview mit Juli Zeh ist auf einem Niveau, das man sich für diese Zeitung immer wünschen würde. Insbesondere aber die Antwort auf die vorletzte Frage sollten sich einige der hier Schreibenden über den Spiegel hängen.

    Johann Storr

    Prima Interview mit Juli Zeh, von der ich sehr positiv überrascht bin. Alles ohne Polemik und Hetze. Dafür Ansätze, wie es besser werden könnte.

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