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Interview: Jean Asselborn: "Dass die EU noch besteht, ist ein Wunder"

Interview

Jean Asselborn: "Dass die EU noch besteht, ist ein Wunder"

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    Jean Asselborn war 19 Jahre lang Außenminister von Luxemburg.
    Jean Asselborn war 19 Jahre lang Außenminister von Luxemburg. Foto: Thomas Trutschel, Imago

    Herr Asselborn, am vergangenen Donnerstag war nach 19 Jahren Ihr letzter Tag als Außenminister, keiner Ihrer Kollegen ist länger im Dienst als Sie. Was war Ihre schwerste Entscheidung in all den Jahren?
    JEAN ASSELBORN: Am Ende prägen meine Amtszeit zwei Daten. Der 24. Februar 2022 und der 7. Oktober dieses Jahres – Putins Überfall auf die Ukraine und der Terror der Hamas gegen Israel. Es fällt mir schwer, einzugestehen, dass wir diese Ereignisse nicht verhindern konnten. Das ist ein Stück weit auch ein Scheitern unserer Diplomatie, all unseres Bemühens in all den Jahren. Das internationale Recht liegt im Koma. Das ist die nüchterne Bilanz.

    Sie hinterlassen Europa also in einem schwierigen Zustand. Ist das die Bilanz nach beinahe 20 Jahren?
    ASSELBORN: Ja und nein. Dass die EU überhaupt noch besteht, ist ja schon ein kleines Wunder, nach all dem, was ich in den 20 Jahren erlebt habe. Der Verfassungsvertrag scheiterte, aber dann kamen die Bestimmungen im Vertrag von Lissabon doch noch. Wir hatten die Finanz- und Eurokrise – und haben kein Land fallen gelassen. Dann kam der Brexit, aber kein anderes Land folgte dem Beispiel der Briten. Und ja, schließlich ist da Russlands Einmarsch in der Ukraine. Aber Europa war und ist da, um der Ukraine zu helfen. Mit militärischer Unterstützung, mit Geld.

    Braucht Europa eine gemeinsame Außenpolitik? Wie kann das gelingen?
    ASSELBORN: Das ist die entscheidende Aufgabe für die nächste Generation. Was wir aber schon jetzt erreichen können, ist, dass nicht ganz Europa blockiert ist, wenn ein Land anderer Meinung ist. Als die Türkei sich militärisch im syrischen Bürgerkrieg einmischte, arbeiteten wir beispielsweise an einem EU-Beschluss, um das zu verurteilen. Weil Ungarn nein sagte, hatte ganz Europa keine Position. Das können wir uns einfach nicht mehr leisten. Ja, wir sind 27 Länder, mit unterschiedlichster Geschichte. Aber wenn Europa in der Welt künftig etwas zu sagen haben soll, müssen wir mehr Kompetenzen abgeben, an Europa.

    Sie sind immer wieder als scharfer Gegner von Rechtspopulisten wie Viktor Orban aufgetreten und fetzten sich mit Italiens Innenminister Salvini. Ihr Ausruf "Merde alors", den Sie ihm entgegenschleuderten, zierte eine Zeit lang sogar T-Shirts. Braucht die Politik mehr echte Typen, sind die heutigen
    ASSELBORN: Das ist keine Typ-Frage. Das ist einfach der Vorteil eines kleinen Landes. Die deutsche Politik hat es naturgemäß schwer, sich zu Polen oder jetzt zu Israel zu positionieren. Die deutsche Geschichte lässt da nicht viel Spielraum. Als Luxemburger kann ich eine deutlichere Sprache sprechen. Etwa, wenn es um die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in

    Hat sich Ihr Blick auf den großen Nachbarn Deutschland in den vergangenen Jahren geändert?
    ASSELBORN: Deutschland ist das größte Land in der EU, und manchmal habe ich den Eindruck, Deutschland versteht noch immer nicht, dass seine Entscheidungen besonderes Gewicht haben. Zum Glück erkennt die deutsche Politik nun die Notwendigkeit, sich militärisch wieder stärker zu engagieren. Denn wahr ist: Wenn Trump wieder gewählt wird, schwächt dies die Nato. Dann stellt sich die Frage: Ist Europa in der Lage, sich selbst zu verteidigen? Heute ist die Antwort: nein. Daher braucht Deutschland eine starke Armee – für Europa.

    Wie bewerten Sie den Aufstieg der AfD in Deutschland, haben Sie Sorgen?
    ASSELBORN: Das Erstarken der Rechtsextremen ist keine deutsche Besonderheit. Dennoch rufen deutsche Rechtsextreme mehr Sorgen hervor als Rechtsextreme in anderen Ländern. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte macht es Vielen Angst, solchen Hass wieder auf Deutsch zu hören. Ich glaube an die deutsche Demokratie. Aber ich sage auch: Wehret den Anfängen!

    Ein Thema, das den Rechten Wähler zutreibt, ist die hohe Zahl von Migranten. Während Europa streitet, sterben weiter Tausende im Mittelmeer. Was muss geschehen?
    ASSELBORN: Solange wir im Norden und im Zentrum keine Verpflichtung eingehen, um den Ländern im Süden zu helfen, wird der Süden die Migranten weiter durchwinken. Das Dublin-System, wonach das Land, wo die Flüchtlinge in der EU ankommen, auch für sie zuständig ist, ist damit passé. Das Gleiche gilt für Schengen, den freien Raum des Reisens in Europa. Sekundärmigration, das Weiterziehen der Migranten ohne Registrierung, macht

    Sie sind gut vernetzt in der SPD, sind mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eng befreundet. Haben Sie in der Vergangenheit versucht, ihn von seinem russlandfreundlichen Kurs abzuhalten?
    ASSELBORN: Nein. Ganz ehrlich, mit Blick auf Russland gab es keinen Millimeter Unterschied zwischen uns. Und Steinmeier und ich, wir waren doch nicht alleine! Wir haben alle daran gearbeitet, mit Putin ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, auch mit der russischen Wirtschaft. Dann kam 2014, die Besetzung der Krim, das war der entscheidende Bruch. Aber was wäre denn die Alternative gewesen? Klar, heute kann man sagen, hätten wir mal die Ukraine 2008 in der Nato akzeptiert – aber wäre die Geschichte anders verlaufen? Das weiß niemand. Brandt und Breschnew, Kohl und Gorbatschow, es ist in der Vergangenheit immer wieder gelungen, Vertrauen aufzubauen. Trotz aller ideologischen Differenzen. An Diktator Putin sind wir gescheitert.

    Sie gelten als wortgewaltiger Unterstützer der Palästinenser. Braucht es eine Feuerpause in Nahost? Wie kann der Frieden gelingen?
    ASSELBORN: Das ist unheimlich schwierig. Europa hat im Nahen Osten kapitale Fehler gemacht. Wir haben es in den vergangenen zehn Jahren nicht geschafft, Dynamik in den Friedensprozess zu bekommen. Wir waren damit zufrieden, die Palästinenser in Gaza einzuhegen. Die ein oder andere Rakete auf Israel, das konnte man managen. Dass die prekäre Lage der Palästinenser Wasser auf die Mühlen von Terroristen im ganzen arabischen Raum war, das haben wir nicht erkannt.

    Und jetzt, wie geht es weiter?
    ASSELBORN: Es liegt ja alles auf dem Tisch, was fehlt ist der politische Wille. Ich kenne Karten, die hatte schon Bill Clinton in der Hand. Man weiß, was man machen müsste. Ost-Jerusalem muss die Hauptstadt eines Palästinenserstaates sein, West-Jerusalem die von Israel. Und das alles in den Grenzen von 1967. Aber das setzt voraus, dass Israel seine Kolonialisierung im Westjordanland beendet. Es fehlt dort heute schlicht der Platz, auf dem die Palästinenser einen Staat gründen könnten. Und ohne einen Palästinenserstaat gibt es keinen dauerhaften Frieden für Israel.

    Welcher Politiker, welche Politikerin hat Sie in fast 20 Jahren am meisten beeindruckt?
    ASSELBORN: Schwer zu sagen. Ich habe Freunde gewonnen, Steinmeier, Frankreichs damaliger Präsident Hollande, Heinz Fischer aus Österreich. Beeindrucken, das verbindet ja Persönlichkeit und Politik. Da denke ich an Nadia Murat, die Nobelpreisträgerin der Jesiden, also jenes Volkes, das von den islamistischen Terroristen des IS fast ausgerottet wurde. Ihre Bescheidenheit und auch ihre Bestimmtheit haben mir sehr imponiert.

    Mit John Kerry fuhren Sie auf dem Rennrad durch das Tal der Sieben Schlösser. Gibt es diese Form der Politik, die Freundschaft mit Diplomatie verbindet, heute noch?
    ASSELBORN: Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es diese Hetzerei von heute nicht, von Krise zu

    Und heute?
    ASSELBORN: Jetzt, vor zwei Wochen, musste ich direkt nach Irans Außenminister in der Vollversammlung reden. Da hörte ich mir natürlich an, was der sagte. Da glaubte man nicht mehr bei der Uno zu sein, das ist so ein Hass. Israel müsse verschwinden, ausradiert werden, die ganzen Tiraden. Dabei beruht die Uno darauf, dass sich 193 Länder gegenseitig respektieren. Das hat sich seit Februar 2022 fundamental geändert. Internationales Recht wird nicht mehr respektiert. Es gibt keine Verteidiger mehr. Der Sicherheitsrat? Funktioniert nicht. Beschlüsse der Vollversammlung? Nobody cares.

    Was passiert, wenn in Washington nicht mehr Europas Freunde wie John Kerry oder jetzt Joe Biden regieren, sondern Trump zurückkehrt?
    ASSELBORN: Trump hat auch in Europa schon viel kaputt gemacht. Patriotismus statt internationaler Zusammenarbeit, das hat auch in der EU verfangen, leider. Wenn er zurückkehrt, wir die Spaltung der Welt tiefer. Das wird extrem schwierig, gerade für uns. Unsere Verteidigungsausgaben werden dann in neue Dimensionen schießen. Ich erkenne diese USA nicht wieder. Das Land hat so großartige Menschen und Politiker hervorgebracht. Wie kann es Trump wählen?

    Jetzt, wo Sie Zeit haben. Was ist Ihre nächste Fahrradtour?
    ASSELBORN: Es geht, wie immer im Sommer, auf den Mont Ventoux. Und Sie wissen ja: Ich fahre von Luxemburg los, wie immer. Aber das ist noch in weiter Ferne.

    Zur Person

    Jean Asselborn war mehr als 19 Jahre lang Außenminister von Luxemburg. Nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der neuen Regierung seines Landes, verabschiedete sich der 74-Jährige aus seinem Amt. Er erwägt kommendes Jahr für das Europaparlament zu kandidieren.

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