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Interview: Historiker Wolffsohn: "Wir gelten mehr und mehr als Wackelpartner in der Nato"

Interview

Historiker Wolffsohn: "Wir gelten mehr und mehr als Wackelpartner in der Nato"

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    Michael Wolffsohn beklagt, dass Deutschland ein „Wackelpartner“ in der Nato ist. Die Regierenden hätten offensichtlich vergessen, dass der Westen das Land im Kalten Krieg gegen die sowjetische Bedrohung geschützt hat.
    Michael Wolffsohn beklagt, dass Deutschland ein „Wackelpartner“ in der Nato ist. Die Regierenden hätten offensichtlich vergessen, dass der Westen das Land im Kalten Krieg gegen die sowjetische Bedrohung geschützt hat. Foto: Ulrich Wagner (Archivbild)

    Herr Wolffsohn, fürchten Sie, dass aus dem Konflikt um die Ukraine ein heißer Krieg werden könnte?

    Michael Wolffsohn: Man muss unterscheiden: Ein Überfall Russlands auf die Ukraine ist nicht auszuschließen. Diesen Krieg würde Russland schnell gewinnen. Dann aber würde die Ukraine mit einem Guerillakrieg antworten. Der dauert lange und wäre für Russland enorm verlustreich. Das jüngste Beispiel eines gewonnenen Guerillakrieges ist Afghanistan. Diesmal hat sich der Westen eine blutige Nase geholt, von 1979 bis 1989 die Sowjetunion. Man denke an den Guerillakrieg in Vietnam, den Frankreich 1954 und die USA 1975 verloren haben. Oder an den Guerillakrieg der Algerier von 1954 bis 1962 gegen Frankreich. Guerilla siegt. Der zu Recht ansonsten als Versager gescholtene US-Präsident Biden hat klipp und klar und realistisch gesagt: Die Ukraine werde auf einen Angriff mit Guerillakrieg reagieren, und die USA würden für diesen Selbstschutz der Ukraine Waffen liefern. Ich nehme an, Putin versteht, was das bedeutet. Deutschland verweigert der Ukraine sogar diesen Selbstschutz. Unter Scholz ebenso wie unter Merkel. Das ist Heuchelei, maskiert als Moral.

    Der russische Präsident Wladimir Putin rechtfertigt seine diplomatischen und militärischen Aktionen mit einer Bedrohung und Einkreisung Russlands durch die Nato. Hat er recht?

    Wolffsohn: Wenn man auf die Karte schaut, könnte man das tatsächlich meinen. Doch der optische Eindruck täuscht. Wer im Westen möchte gegen Russland Krieg führen? Niemand. In westlichen Gesellschaften gilt: „Krieg? Nein Danke!“ Die Menschen wollen leben, lieben, genießen, Geld. Auch die meisten Russen und erst recht Ukrainer. Und deshalb verbreitet Putin die Lüge von der aggressiven westlichen Einkreisung Russlands. Putin pokert. Er will zumindest den Osten der Ukraine Russland einverleiben. Dazu gehört Propaganda, und Propaganda ist, anders als Information, fast immer Lüge.

    Teilen Sie die Ansicht, dass der Westen sein Versprechen gebrochen hat, die Nato nicht nach Osten auszuweiten?

    Wolffsohn: Davon war kurz nach dem Mauerfall 1989/90 die Rede. Bis zum Sommeranfang 1990. Danach nicht mehr. Dieses Versprechen wurde nie gegeben. Sonst wären ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten wie Polen, Ungarn und andere nicht als Mitglieder der Nato aufgenommen worden.

    Was ist Ihrer Ansicht das strategische Ziel des Kreml-Chefs?

    Wolffsohn: Das ist ziemlich klar: Ähnlich wie einst die Zaren nach dem Mongolensturm will er „russische Erde“ wieder einsammeln. Anders als damals ist es das Gebiet der bis 1991 bestehenden Sowjetunion. Das „Einsammeln“ beginnt mit dem Schaffen von Abhängigkeiten. Siehe Belarus, siehe Armenien, Abchasien, Ossetien, Kasachstan. In der Ost-Ukraine ist das schon der Fall. Wo die Gelegenheiten Putin nicht – wie jüngst in Belarus und Kasachstan – in den Schoß fallen, schafft er sie selbst. Siehe jetzt Ukraine. Dazu die Drohungen, russische Militärs vor der Haustüre der USA zu stationieren: auf Kuba und in Venezuela. Er hat auch das Faustpfand Syrien. Am Montag flogen russische Kampfflugzeuge mit syrischen Jets über den von Israel kontrollierten Golan. Grandiose Strategie. Leider kann dem Strategen Putin im Westen keiner das Wasser reichen. Das ist selbst verschuldet, weil wir unseren Wunsch nach Frieden mit der globalen Wirklichkeit verwechseln.

    Die Nato ringt um eine einheitliche Linie, um den Preis einer militärischen Intervention für Russland hochzutreiben. Deutschland steht in der Kritik, weil es als Bremser auftritt und widersprüchliche Signale aussendet. Wie sehen Sie die deutsche Außenpolitik in der Ukraine-Krise?

    Wolffsohn: Die Signale sind klar: Worte für die Ukraine, Taten für Russland. Bislang. Nicht einmal Waffen zur Selbstverteidigung liefern wir der Ukraine. Das ermuntert den Aggressor. Die deutsche Regierung sagt und will Frieden, aber sie fördert dadurch die russische Aggression. Heuchelei nennt man das. Schlimmer noch: Deutschland verbietet den baltischen Staaten, deutsche Waffen, die sie besitzen, der Ukraine zu geben. Die Briten schicken der Ukraine Waffen und fliegen dabei um Deutschland herum, weil sie sich aus Berlin für eine Überfluggenehmigung gar nicht erst einen Korb holen wollen. Die Botschaft ist klar: Wir gelten mehr und mehr als Wackelpartner in der Nato. Deutsche Politik ist wortreich und faktisch fast schon neutral. Hat man vergessen, dass der Westen – allen voran die USA – im Kalten Krieg so klar auf unserer Seite standen, dass wir nicht von der Roten Armee überrollt wurden? Uns wurde geholfen, aber wir helfen nicht. Niederschmetternd, politisch und moralisch.

    Die Bundesregierung will keine Waffen an die Ukraine liefern, auch keine defensiven. Begründet wird diese Haltung auch mit der deutschen Vergangenheit. Ist das stichhaltig?

    Wolffsohn: Eine bequeme und ebenfalls heuchlerische Ausrede, die nicht zum ersten Mal von der bundesdeutschen Außenpolitik gebraucht, genauer: missbraucht wird. Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg die Russen ebenso wie die Ukrainer und Polen massenweise ermordet und beraubt. Jetzt blendet unsere Außenministerin die deutsche Schuld gegenüber der Ukraine aus. Ein Skandal. Denken Sie an den Oktober 1973: Israel stand kurz vor der Auslöschung durch Ägypten und Syrien. Es flehte um Waffen. Die USA wollten schnell welche aus der Bundesrepublik liefern. Kanzler Brandt und Außenminister Scheel untersagten das den Amerikanern. Aber sonst war und ist auch Israel gegenüber immer die Rede von der historischen Verantwortung. Das Reden von Werten gehört zum Kanon deutscher Außenpolitik. Das entsprechende Handeln weist dramatische Defizite auf. Ausgerechnet bei einer Grünen Außenministerin. Von Maas, Gabriel, Steinmeier und Westerwelle habe ich nicht mehr erwartet. Da bekommt man ja Sehnsucht nach Joschka Fischer.

    Gerade SPD-Politiker äußern Verständnis für russische Positionen und fordern eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa. Sie verweisen auf Willy Brandts Entspannungspolitik. Liegen sie richtig?

    Wolffsohn: Das ist ein Ablenken von der entscheidenden Frage. Die lautet: Wer droht, wer ist der Aggressor? Reagiert Russland auf eine Bedrohung, oder bewirkt russisches Agieren die Bedrohung? Die Antworten sind klar. Ich habe das bereits begründet. Was in der SPD gerne vergessen oder verschwiegen wird: Die in Fragen über Sein oder Nicht- sein traditionell proisraelische Politik der Bundesrepublik hat Brandt zugunsten seiner Ostpolitik geopfert. Siehe 1973. In meinem Buch „Friedenskanzler Brandt“ habe ich das beschrieben. Ich verstehe die SPD-Nostalgie, aber wir schreiben das Jahr 2022, und nicht mehr die Brandt-Ära bis 1974.

    Dass SPD-Politiker, aber auch Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) schon vor den Folgen von Sanktionen warnen, wird von Bündnispartnern als Schwächung des Westens kritisiert. Teilen Sie diesen Vorwurf?

    Wolffsohn: Ja, zum Teil. Söder versteht wenig von Außenpolitik. Anders Merz. Aber Sie zitieren Merz’ Warnung, wie die meisten, falsch. Er warnte vor einen Ausschluss Russlands aus dem internationalen Banken-Zahlungssystem „Swift“. Das würde auch uns massiv schaden. Es gibt massenweise Aktionen und Sanktionen, bei denen wir Putin & Co., nicht aber uns selbst schaden. Insofern warnt Merz vor einer Dummheit. Hier und jetzt braucht die Ukraine Defensivwaffen. Dagegen hat Merz nichts gesagt, soweit ich weiß.

    Sehen Sie Punkte, bei denen der Westen Russland entgegenkommen sollte, um einen Krieg zu verhindern?

    Wolffsohn: Ein Ja wäre Appeasement wie 1938, als die Demokratien Frankreichs und Britanniens Hitler durch Nachgeben Appetit auf mehr Aggression und dann Krieg und Weltkrieg machten. Es gibt aber eine Lösung, die ohnehin überfällig ist, weil sie den bevölkerungspolitischen Rahmenbedingungen der Ukraine entspricht und den Menschen Selbstbestimmung ermöglicht. Die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim und im Osten der Ukraine will eng mit Russland verbunden sein. Das ist, unabhängig von Putin, Fakt. Das Völkerrecht erklärt die bestehenden Grenzen für unantastbar. Folglich wäre dies möglich: Konkret würde aus der Ukraine die „Bundesrepublik Ukraine“, ein Bundesstaat mit mindestens drei Bundesländern: West-Ukraine, Ost-Ukraine, Krim. Frieden durch Föderalismus. Man lese dazu mein Buch „Zum Weltfrieden“.

    Besteht die Gefahr, dass Putin Kompromissbereitschaft als Signal deutet, in Zukunft noch weitergehende Forderungen zu stellen, um alte sowjetische Machtpositionen zurückzuerobern?

    Wolffsohn: Kompromisse sind der Stoff, aus dem innerer und äußerer Frieden ist. Frieden besteht nicht aus Drohungen und Aggressionen. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, weil er stets verhandlungsbereit und gut gerüstet war. Deutschland unter Scholz und Merkel hat das vergessen.

    Zur Person: Michael Wolffsohn, 74, in Tel Aviv geboren als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten ist Historiker und Autor. Wolffsohn lehrte bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehr-Universität München.

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