Herr Ministerpräsident, noch vor einem halben Jahr haben sich viele in Deutschland gewundert, als Sie in Hessen nach der Landtagswahl nicht wieder die Grünen, sondern die SPD als Koalitionspartner wählten. Heute hat sich bundesweit die Stimmung gegen die Grünen gedreht. Haben Sie das wie ein Trendsetter damals kommen sehen?
Boris Rhein: Das Wahlergebnis im Oktober 2023 war für die CDU als bürgerliche Kraft der Mitte ein enormer Erfolg. Und der Auftrag der Wählerinnen und Wähler war klar: Die Probleme lösen und die Themen anpacken, die die Menschen wirklich beschäftigen – Migration, innere Sicherheit, Wirtschaftspolitik, soziale Gerechtigkeit und zwar so, dass sich Leistung wieder lohnt. Wir haben das Wahlergebnis als Wunsch nach einer Renaissance der Realpolitik verstanden. Wir haben dann fünf Wochen intensiv sondiert. Wir hatten in Hessen mit den Grünen zehn gute Jahre, keine Frage. Aber am Ende waren die Schnittmengen zwischen uns und den Sozialdemokraten sehr viel größer. Deshalb haben wir uns in Hessen für eine christlich-soziale Koalition entschieden.
Sie haben jetzt den Vergleich: Wie läuft die Zusammenarbeit mit der SPD? Einfacher als mit den Grünen?
Rhein Alles, was wir derzeit in der deutschen Politik erleben, bestätigt mich darin, dass die Entscheidung richtig war. Im Augenblick ist mit den Grünen kein Staat zu machen. Wir sehen im Bund, dass man mit den Grünen an keiner Stelle die dringend nötige pragmatische Realpolitik hinbekommt. Das Cannabis-Gesetz ist ein Desaster und eine Gefahr für Deutschland. In der Migrationspolitik verhindern die Grünen, dass wir weitere sichere Herkunftsstaaten ausweisen. Das fahrige Hin und Her bei der Bezahlkarte war ein Turbo für die AfD. Wir sehen ja in Frankreich, was passiert, wenn Volksparteien einfach verschwinden, wenn es keine starke konservative bürgerliche Kraft mehr gibt: Die radikalen Kräfte wachsen. Das muss uns allen eine Warnung sein. Eine starke Demokratie braucht eine starke christlich-demokratische Kraft.
Haben nicht die Großen Koalitionen im Bund zum Erstarken der AfD und zur Schwächung der Volksparteien geführt? Jetzt lobt Ihr Bundesvorsitzender Friedrich Merz Hessen als Blaupause ....
Rhein: Es kommt auf das Kräfteverhältnis an: Wenn der eine Partner 35 Prozent hat und der andere 15 Prozent, so wie in Hessen, dann ist das keine klassische Große Koalition, die in der Tat durch zu viele Kompromisse gelähmt werden kann. Die letzte Große Koalition im Bund war 2017 übrigens kein Wunschprojekt, sondern wurde aus Staatsräson geschlossen, nachdem die Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis gescheitert waren. Die Koalition in Hessen dagegen haben wir vereinbart, um den Wählerwillen bestmöglich umzusetzen.
Es fällt auf, dass in Ihrer neuen Hessen-Koalition viel weniger vom Klimaschutz die Rede ist. Ihr SPD-Verkehrsminister hat sogar Elektroautos aus dem Regierungsfuhrpark aussortiert. Machen Sie da nicht eine rückwärtsgewandte Politik?
Rhein: Der Eindruck ist falsch. Zu einer Politik für die Zukunft gehört auch eine Politik für den Klimaschutz. Das zeigen auch die jüngsten Starkwetterereignisse wieder. Unsere neue Landesregierung hat deshalb dieselben hohen klimapolitischen Ziele wie die schwarz-grüne Vorgängerregierung. Dazu müssen wir aber nicht den Begriff Klimaschutz auf ein Ministeriumsschild schreiben. Entscheidend ist eine vernünftige Klimapolitik, bei der wir die Menschen mitnehmen und niemanden mit Verboten oder Bevormundung verprellen. Klimaschutz gelingt nur, wenn man die Menschen begeistert statt bestraft, mit Anreizen statt Ansagen.
Trotz des Absturzes der Ampelparteien kam die Union bei der Europawahl nicht über 30 Prozent hinaus. Aus der CSU wurde prompt die Kanzlerkandidaten-Debatte angestoßen. Ist die Frage offen?
Rhein: Europawahlen haben ihre eigenen Gesetze. Das liegt an den speziellen Europathemen, das liegt aber auch daran, dass es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt. Deshalb gibt manch einer bei einer Europawahl seine Stimme an eine sehr kleine Partei – anders als bei einer Bundestags- oder Landtagswahl. Und was die Kanzlerkandidatenfrage betrifft: Wir haben einen klar vereinbarten Zeitplan. CDU und CSU klären die Frage gemeinsam nach den Wahlen in den ostdeutschen Ländern.
Ihr CDU-Kollege Hendrik Wüst sagte nach der Europawahl: „Alle Ministerpräsidenten haben die Regierungserfahrung und auch die Fähigkeit zur Kanzlerkandidatur“. Sehen Sie das auch so?
Rhein: Natürlich haben Ministerpräsidenten auch die Fähigkeiten für eine Kanzlerkandidatur. Sie haben die nötige Regierungserfahrung, sie wissen, wie Länder ticken und arbeiten bundespolitisch intensiv über den Bundesrat und die Ministerpräsidentenkonferenz mit. Aber wir sind an die Spitze eines Landes gewählt worden, um dort zu regieren. Das ist mir wichtig, ich bin sehr gerne hessischer Ministerpräsident. Außerdem hat die CDU sehr starke Bundespolitiker, allen voran unseren Bundesvorsitzenden Friedrich Merz, der in Berlin eine herausragende Rolle spielt. Er hat unsere Partei und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit einem großartigen Grundsatzprogramm und einer erfolgreichen Oppositionsarbeit in kürzester Zeit wieder zu neuer Stärke geführt.
Sie und CSU-Chef Markus Söder pflegen seit Ihrer Zeit in der Jungen Union ein enges Verhältnis. Könnten Sie sich auch ihn als Kanzlerkandidaten vorstellen?
Rhein: Ich schätze Markus Söder unheimlich. Ich arbeite eng, vertrauensvoll und auch sehr gerne mit ihm zusammen. Hessen und Bayern sind wirtschaftsstarke Länder mit gemeinsamen Interessen. Markus Söder ist Ministerpräsident eines großen Bundeslands und Vorsitzender einer bundesweit bedeutsamen Partei, selbstverständlich könnte er auch Kanzler für Deutschland werden. Genauso wie Friedrich Merz Bundeskanzler werden kann.
Auch Sie stehen als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz auf der bundespolitischen Bühne. Viele waren überrascht, dass Sie sich beim letzten Bund-Länder-Treffen als Unionsmann eher wohlwollend über die Fortschritte der Ampelkoalition in der Migrationspolitik geäußert hatten. Stellen Sie das Zeugnis hier immer noch so gut aus?
Rhein: Als Unionspolitiker wünsche ich mir in der Migrationspolitik viel mehr Schritte in viel höherem Tempo, als die Bundesregierung zu gehen bereit ist. Ohne den großen Druck der Unionsländer in den vergangenen Jahren hätte es bei der Ampel keine Bewegung für Asylverfahren in Drittstaaten gegeben, keine Ausweitung der sicheren Herkunftsländer, keine Bezahlkarte, keine Kontrollen der deutschen Grenzen und keine Bewegung für ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Die Bundesregierung wäre diesen ganzen Weg in der Asylpolitik nie von selbst gegangen. Und genau diese Fortschritte, die es nur dank der Union gibt, wollte ich im März nicht schlechtreden. Klar ist aber auch: Jetzt muss die Bundesregierung liefern. Wir erwarten von Bundeskanzler Olaf Scholz klare Aussagen, wie Asylverfahren in Transit- und Drittstaaten außerhalb der EU stattfinden können. Wir erwarten, dass der Kanzler dazu persönlich in den entsprechenden Ländern die nötigen Verhandlungen führt. Das muss Chefsache sein, da kann man nicht einfach einen Beauftragten hinschicken. Wir erwarten vom Kanzler außerdem, seine Ankündigung, künftig islamistische Straftäter nach Afghanistan und Syrien abzuschieben, in die Tat umzusetzen. Wenn den Worten des Kanzlers im Bundestag wieder keine Taten folgen, wäre das ein enormer Vertrauensschaden für die gesamte Politik.
Warum haben Sie bei der Ministerpräsidentenkonferenz am kommenden Donnerstag die Verteidigungspolitik ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt? Ist das nicht klare Sache des Bundes, nicht der Länder?
Rhein: Angesichts der enorm gewachsenen Herausforderungen brauchen wir eine gemeinsame Sicherheitsoffensive von Bund und Ländern. Da geht es nicht nur um Terrorgefahr, Cyberangriffe und den Schutz kritischer Infrastruktur, sondern auch sehr konkret um Verteidigungspolitik: Wenn die Nato die Ostflanke schützen muss, dürfen Truppenverlegungen und Transit nicht an mangelnder deutscher Infrastruktur scheitern. Im Ernstfall muss eine große Zahl an Militärtransporten in Konvois rollen können, und dafür müssen die Straßen und Brücken in entsprechendem Zustand sein. Es braucht Vorbereitungen für große Rastplätze mit den entsprechenden Übernachtungsplätzen für Soldatinnen und Soldaten. Das alles muss gut geplant sein, damit es im Ernstfall funktioniert. Über all das und auch über die damit verbundenen Kosten müssen Bund und Länder miteinander sprechen. Gleichzeitig haben wir aber auch die klare Erwartungshaltung, dass die Bundesregierung die angekündigte Zeitenwende endlich einlöst statt weiter Zeit zu verschwenden. Die Verteidigungsfähigkeit unserer Bundeswehr hat in diesen Zeiten eine sehr hohe Priorität.
Nach den jüngsten Hochwasser-Katastrophen streiten Bund und Länder über die Einführung einer Pflichtversicherung gegen Elementarschäden. Erwarten Sie einen Durchbruch bei Ihrem Treffen?
Rhein: Die beste Maßnahme gegen Extremwetterschäden ist ein wirksamer Klimaschutz. Aber das wirkt nur langfristig. Bis dahin dürfen Naturkatastrophen wie Unwetter oder Stürme weder Menschen in den finanziellen Ruin treiben, noch in vollem Umfang alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler belasten. Extremwetterereignisse werden zunehmen, deshalb fordern die Länder zügig eine Pflichtversicherung für Elementarschäden. Ich bedauere sehr, dass die FDP in der Bundesregierung eine Lösung blockiert. Bundesjustizminister Marco Buschmann verweigert sich einer Versicherungspflicht, die den Betroffenen unter die Arme greifen und gleichzeitig die Solidargemeinschaft entlasten würde. Das ist falsch verstandene Liberalität.
Beim Thema falsch verstandener Liberalität diskutieren viele nach dem hohen Abschneiden der AfD unter Jungwählern, ob man für Apps wie Tiktok nicht strengere Regeln bräuchte. Ist es in Ordnung, wenn hier chinesische Algorithmen die Verbreitung von Propaganda befeuern?
Rhein: Wir müssen die AfD inhaltlich stellen und ihr die Maske vom Gesicht reißen. Wir müssen deutlich machen: Wer in sich China und Russland andient, der gefährdet unser aller Sicherheit und gerade die von jungen Leuten. Wer ernsthaft den „Dexit“ will, also den Ausstieg Deutschlands aus der EU, will unser Land in Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit stürzen. Von Verbotsdebatten über Tiktok halte ich wenig. Ich sehe bei meinen Söhnen, dass Videos bei Tiktok oder auf Youtube eine immer größere Rolle spielen. Während ich noch nach einer Gebrauchsanleitung google, haben die Jungs das Problem mit einem Youtube-Video schon gelöst.
Wir auch haben gelesen, dass Sie und Ihre Frau nicht nur am gleichen, sondern sogar am selben Tag Geburtstag haben. Das klingt nach einem Freudenfest für Astrologen. Wie feiert man da?
Rhein: In der Tat sind meine Frau und ich beide am 2. Januar 1972 geboren. Wir waren selbst erstaunt, als wir das ein paar Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, bemerkt haben. Das ist natürlich eine besondere Konstellation, weil Steinböcke manchmal so ihre Eigenheiten haben – und die gibt es bei uns dann auch mal im Doppelpack. Meine Frau leidet ein bisschen unter dem Datum, weil sie immer gerne groß feiern würde, aber meine Lust auf noch ein Fest so kurz nach Weihnachten und Silvester meist nicht besonders ausgeprägt ist. Aber einen Vorteil hat das Ganze zweifellos: Ich kann niemals den Geburtstag meiner Frau vergessen.
Zur Person: Boris Rhein ist seit Mai 2022 hessischer Ministerpräsident. Der 52-jährige Frankfurter studierte nach seinem Zivildienst Jura. Der CDU-Politiker wurde 2010 hessischer Innenminister, vier Jahre später Wissenschaftsminister und 2019 Landtagspräsident. Rhein ist mit einer Richterin verheiratet und hat zwei Söhne.