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Interview: Früherer SPD-Chef Scharping: Putin verwandelt Russland in ein Gefängnis

Interview

Früherer SPD-Chef Scharping: Putin verwandelt Russland in ein Gefängnis

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    Rudolf Scharping mahnt Europa zu mehr Sicherheitspolitik.
    Rudolf Scharping mahnt Europa zu mehr Sicherheitspolitik. Foto: RSBK AG

    Herr Scharping, Sie waren SPD-Chef und Bundesverteidigungsminister. Sehen Sie eine Chance, dass der Krieg in der Ukraine in den nächsten Monaten beigelegt werden kann?

    Rudolf Scharping: Man muss es versuchen. Präsident Selenskyj fordert das direkte Gespräch. Ich fürchte aber, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine noch lange dauern wird. Umso wichtiger bleibt die umfassende Unterstützung der Ukraine.

    Gilt das, obwohl Selenskyj Bundespräsident Steinmeier in Kiew nicht empfangen will, was in der SPD Unmut hervorgerufen hat?

    Scharping: Ja, das gilt trotz des Affronts gegen die Präsidenten Polens und Deutschlands.

    Europa hat die Sanktionen gegen Russland erneut verschärft, doch das Morden geht unverändert weiter.

    Scharping: … und das ist fürchterlich. Die Kriegsverbrechen in der Ukraine gehen weiter. Gleichzeitig verwandelt Putin Russland mehr und mehr in ein stalinistisches Gefängnis. Gerade deshalb ist ein Dreiklang sinnvoll: Die Ukraine braucht Waffen, um sich verteidigen zu können. Zudem sind Sanktionen gegenüber Russland, die hart sind und auch verschärft werden können, unerlässlich. Und der internationale Druck auf Russland muss erhöht werden. Dabei sollte man durchaus auch die Möglichkeit der geheimen Diplomatie nutzen. Europa braucht dafür inneren Zusammenhalt und äußere Handlungsfähigkeit.

    Inwiefern berührt das den inneren Zusammenhalt Europas? Europa tritt doch geschlossener denn je auf.

    Scharping: Das muss auch so bleiben. Die Lieferung schwerer Waffen scheint mir geboten. Das macht militärisch aber nur Sinn, wenn die Ukrainer diese Waffen auch benutzen können – und wenn Nachschub, Wartung und damit die Einsatzfähigkeit gesichert werden. Dafür stellt Europa viel Geld zur Verfügung. Viele Rüstungsfirmen und Staaten, auch Deutschland, liefern, was möglich ist.

    Eine wirkungsvolle Waffe wäre sicher auch, auf russisches Gas zu verzichten.

    Scharping: Unser Land trägt schon heute die wirtschaftliche Hauptlast. Würden die Gaslieferungen aus Russland eingestellt, dann hätte das nach Einschätzung des Bundeswirtschaftsministeriums massive ökonomische Folgen. Denn 38 Prozent dieser Gaslieferungen werden hierzulande industriell verwendet. Ein sofortiger Stopp würde über 40.000 Betriebe mit rund sechs Millionen Beschäftigten treffen. Zunächst würden die chemische Industrie, bestimmte Teile der Metallindustrie und andere einbrechen. Das wird dann ausschlagen auf große Teile der deutschen Industrie und deren mittelständische Zulieferer, nicht nur auf die Automobilindustrie. Eine ähnlich gefährliche Entwicklung würde sich in anderen europäischen Ländern ergeben.

    Doch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW hält einen deutschen Verzicht auf russisches Gas noch in diesem Jahr für möglich.

    Scharping: Die drei Szenarien des DIW sind hilfreich, aber auch das maximal optimistische Szenario setzt voraus, dass wir Energie einsparen und wesentlich effizienter nutzen – vor allem, dass alle in Europa den Weg mitgehen. So klärt die Bundesregierung gerade Fragen wie: Können Terminals für Flüssiggas in den Niederlanden auch für Deutschland genutzt werden? Ist Norwegen in der Lage, auf die maximale Gas-Fördermenge hochzufahren? Oder: Nehmen die Niederlande ihre volle Gas-Förderung wieder auf?

    Wie stehen also die Chancen, doch schneller auf russisches Gas zu verzichten?

    Scharping: Das Puzzle ist wirtschaftlich kompliziert und technisch anspruchsvoll. 2011 haben wir den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, danach den Ausstieg aus der Kohle. Einen Masterplan zum Einstieg in die neue Energiewelt gibt es leider bis heute nicht, nur Fragmente. Und der Zusammenbruch großer Teile der deutschen Industrie durch einen Gas-Boykott ist nicht im europäischen Interesse.

    Welche Folgen für die EU hätte denn so ein deutscher Gas-Boykott?

    Scharping: EU-Länder wie vor allem Deutschland würden dann als Nettozahler für den europäischen Haushalt ausfallen. Das hätte massive negative Folgen für Staaten wie Ungarn und Polen. Es würden also Länder in Mitleidenschaft gezogen, die viele Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen. Bundeskanzler Scholz, Wirtschaftsminister Habeck und die Koalition haben das im Blick. Das ist klug und verantwortungsbewusst.

    Dann sitzen wir aber noch lange in der russischen Gas-Falle und finanzieren das stalinistische Gefängnis weiter mit, wie Sie es nennen.

    Scharping: Die schreckliche Wahrheit ist, dass auch ein sofortiger Stopp nichts ändern wird an diesem grausamen Überfall – schlimmer noch: Durch einen Gas-Boykott würden wir unsere eigene Kraft massiv beschädigen, auf allen Ebenen für ein Ende des Krieges zu wirken. Deshalb ist es so wichtig, dass die Bundesregierung, allen voran Wirtschaftsminister Habeck, intensiv an Alternativen zu russischem Gas arbeitet. Doch wir dürfen uns keine Illusionen machen: Diese Alternativen stehen frühestens ab den Jahren 2024 und 2025 zur Verfügung.

    Wie muss sich Europa über eine Verschärfung der Sanktionen hinaus mittelfristig auf das stalinistische und aggressive Russland einstellen?

    Scharping: Zunächst einmal leistet Europa enorm viel, um die Ukraine zu unterstützen – und das politisch, wirtschaftlich und mit Waffenlieferungen. Ein Angriffskrieg im europäischen Haus findet also eine klare Antwort. Doch mittelfristig muss man sich in Europa fragen: Kann und soll die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Europas von der Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten abhängig sein? Die rechtspopulistischen Gefahren in Europa dürfen nicht neuen Auftrieb erhalten, etwa durch die Wahl von Frau Le Pen, die rechtsradikal ist. Gefahren für einen europäischen Wesenskern, nämlich die Rechtsstaatlichkeit, werden heute mit Blick auf Polen oder Ungarn auch eher vorsichtig behandelt, um die europäische Einigkeit für die Ukraine nicht zu belasten.

    Was befürchten Sie?

    Scharping: Sollte sich der Rechts-Populismus weiter ausbreiten, wäre das fatal für Europa und seine Verantwortung für eine friedliche Welt. Es würden Zweifel laut, ob Europa noch ein berechenbarer, verlässlicher und starker Akteur auf der Weltbühne ist. Erste Zweifel bestehen bereits. Denn Tiraden wie die des polnischen Ministerpräsidenten gegen den französischen Präsidenten Macron sind im Kern gegen ein handlungsfähiges Europa gerichtet.

    Was muss jetzt passieren?

    Scharping: Auf alle Fälle müssen wir die europäische Sicherheits- und Entspannungspolitik aus der Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs wiederbeleben. Europa muss hier endlich auf eigene Füße kommen, sonst werden wir Spielball in der Geopolitik statt Gestalter zu sein.

    Zur Person: Rudolf Scharping, 74, war von 1991 bis 1994 Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und von 1998 bis 2002 Bundesverteidigungsminister im Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder. Von 1993 bis 1995 hatte er zudem das Amt des Bundesvorsitzenden der SPD inne. Seit 2005 ist er Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer. Scharping hat nach seiner Politik-Zeit als geschäftsführender Gesellschafter das Beratungs-Unternehmen RSBK mit Sitz in Frankfurt und Peking aufgebaut.

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