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Interview: Ex-BR-Fernsehchef Gottlieb: „Unter der Oberfläche geht es schon länger bergab“

Interview

Ex-BR-Fernsehchef Gottlieb: „Unter der Oberfläche geht es schon länger bergab“

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    "Als Journalist bin ich Beobachter und Gesprächspartner vieler Menschen. Das sind die Quellen, aus denen sich dieses Buch speist", sagt Sigmund Gottlieb.
    "Als Journalist bin ich Beobachter und Gesprächspartner vieler Menschen. Das sind die Quellen, aus denen sich dieses Buch speist", sagt Sigmund Gottlieb. Foto: Imago/Frank Hoermann / Sven Simon

    Herr Gottlieb, Sie haben ein neues Buch geschrieben. Es heißt „So nicht. Klartext zur Lage der Nation“. Entstanden ist es zu großen Teilen vor dem Krieg in der Ukraine. Jetzt ist die Lage objektiv schlecht. Aber wie war sie denn vorher?

    Sigmund Gottlieb: Der Krieg in der Ukraine hat alles verändert und zeigt, wie verwundbar auch wir im reichen Deutschland sind. Aber das war eigentlich nicht mein Punkt. Unter der Oberfläche geht es mit diesem Land schon länger bergab. Die Verwaltung ist langsam und träge. Die Politik steckt zu viel Geld in das Soziale, aber zu wenig in die Schulen, in Straßen und schnelles Internet. Der Ehrgeiz schwindet, zur Weltspitze gehören zu wollen. Passt schon, reicht schon sind der neue Standard. Wissen Sie, wo es mir richtiggehend bewusst wurde?

    Als Sie einmal vom Berliner Flughafen abgeflogen sind?

    Gottlieb: Nein, nach Berlin nehme ich meistens den Zug. Ich saß in Berchtesgaden in einem Hotel. Der Putz bröckelte, die Schnitzarbeiten an den Balkonen waren vom Wetter ausgeblichen, die Fensterscheiben waren nicht geputzt. Das wäre früher undenkbar gewesen. In Oberbayern sieht doch normalerweise alles wie geleckt aus.

    Das könnte ein Einzelfall gewesen sein…

    Gottlieb: Es ist eine Anekdote. Aber wir spüren es doch überall, wenn man am Flughafen ist, wenn man mit der Bahn fährt, wenn Großprojekte zehn Jahre länger dauern als geplant und sich der Preis vervielfacht. Und wenn Sie sich anschauen, was in den Schulen los ist. Das ist doch schlimm. Und wissen Sie, was mich wirklich stört?

    Nein…

    Gottlieb: Wir stellen die Lage sehr viel besser dar, als sie ist. Wir, das heißt die Eliten und die Mitglieder von Institutionen, die zu den Eliten gehörten. Das sind vor allem die Politiker, aber auch die Journalisten. Ich habe das im Buch als Euphemismus bezeichnet. Die Krankheit, die deutsche Krankheit ist der Euphemismus. Ein Euphemismus, der alles schönredet und weichzeichnet.

    Da muss ich Ihnen widersprechen. Dass nicht genügend über die Desaster am Berliner Flughafen und jetzt bei der Stammstrecke in München berichtet wurde, stimmt nicht. Die Bildungsmisere ist seit 20 Jahren Thema. Sie sind ja nicht der Erste, der ein Buch über den deutschen Abstieg schreibt. Leute aus dem Ausland sagen oft, Ihr wisst gar nicht, wie gut Ihr es habt. Nörgeln Sie nicht einfach ein bisschen herum?

    Gottlieb: Alles andere als das. Es gibt es ja den berühmten Satz „Wenn die Deutschen Licht am Ende des Tunnels sehen, dann verlängern sie den Tunnel“. Meine Sorge ist, dass wir an so vielen unterschiedlichen Stellen an Kraft verlieren, an Sorgfalt verlieren, an Gewissenhaftigkeit verlieren, nachlässig werden. Es gibt nach wie vor Bereiche, wo wir Spitze sind in Deutschland. Die duale Ausbildung zählt dazu, die Gesundheitsversorgung, der Mittelstand. Aber wenn man dort mit Leuten redet, dann befürchten die, dass die Basis wegbröckelt. In den Krankenhäusern sehen wir es seit Corona erst richtig.

    Das klingt mir danach, als diagnostizieren Sie ein Haltungsproblem, ein Problem mangelnder Einstellung?

    Gottlieb: Das ist es auch. Wir strengen uns nicht mehr an, wir lassen viele Dinge verkommen, wir ruhen uns auf den Wohlstand aus, der uns ja wirklich in einer weich gefederten Hängematte in den letzten Jahren getragen hat. Wir stopfen die Leute mit Sozialleistungen voll, die wie das Manna vom Himmel kommen. 40 Prozent der staatlichen Ausgaben gehen in das Soziale, nur sechs Prozent in die Bildung. Wir haben aber nichts anderes als Geist. Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen haben das ermöglicht, von denen Angela Merkel gut gelebt hat. Und nun stellen wir langsam fest, dass diese Hängematte Löcher bekommt. Schauen Sie sich mal um, kaum ein Industrieland wächst so wenig wie Deutschland.

    Eine Altenpflegerin, die Ihr Buch liest, schüttelt womöglich ziemlich heftig mit dem Kopf. Sie reibt sich auf im Heim und wird dennoch den Senioren nicht gerecht. Sie brechen damit den Stab über viele Millionen Leute in Deutschland, die sich echt reinhängen.

    Gottlieb: Gut, dass wir diese Leute haben. Dennoch kann man doch beobachten, dass die neue Arbeitsmoral nicht wie die alte ist. Wenn eine Gesellschaft nur noch über Work-Life-Balance spricht und man den Eindruck hat, Arbeit ist im Grunde nur dafür da, die Freizeit zu organisieren, dann läuft aus meiner Sicht etwas schief. Auch das Arbeiten von zu Hause ist nicht für alle gut. Es fehlt an Austausch und Verbindlichkeit.

    Ist die neue Macht der Beschäftigten nicht eine direkte Folge der alternden Gesellschaft mit ihrem schrumpfenden Arbeitskräfteangebot? Kaum eine Firma die nicht über fehlendes Personal klagt...

    Gottlieb: Natürlich hat das damit zu tun. Die Folge müsste aus meiner Sicht aber eine andere sein. Die Produktivität müsste steigen und wo das nicht geht, müsste wieder länger, härter gearbeitet werden.

    Ich bin skeptisch, dass sich das irgendwie verordnen lässt. Wenn das so ist, dass das nachlassende Streben nach oben mit der alternden Gesellschaft zu tun hat, dann ist es doch schwer, einen Schuldigen für den Abstieg zu benennen...

    Gottlieb: Für mich geht auch viel zu viel aufseiten des Staates schief und dafür tragen die Politiker die Verantwortung. Sicher ist die Welt heute komplexer geworden, aber diese Feststellung darf nicht für alle Missstände als Entschuldigung dienen. Dass zu wenige Lehrer eingestellt wurden, dass ein Teil der Schulgebäude seit Jahrzehnten nicht saniert wurde und dass es viel zu wenige Sozialwohnungen gibt, das sind hausgemachte Probleme. Dafür tragen die gewählten Politiker die Verantwortung.

    Hatte Deutschland früher bessere Politiker? Adenauer, Schmidt, Brandt, Strauß und Kohl sind große Namen aus der Vergangenheit…

    Gottlieb: Nein, sie waren nicht per se besser. Aber im Unterschied zu heute hatten sie entweder existenzielle Prüfungen durchgemacht oder hatten vor der Politik einen anderen Beruf. Das fehlt mir heute. Eine Karriere vor der Politik macht natürlich unabhängiger in Entscheidungsprozessen. Man ist dann nicht auf Gedeih und Verderb der eigenen Partei ausgeliefert. Heute sitzen zu viele in den Parlamenten und Regierungen, die nur das politische Handwerk gelernt haben. Deshalb fehlt ihnen das Verständnis für wichtige Teile der Gesellschaft, was wiederum bei den Wählern zum Gefühl der Abgeschlossenheit der politischen Klasse führt. Es gibt nur eine minimale Durchlässigkeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Das ist in Amerika anders.

    Sie sprachen eingangs davon, dass auch der Journalismus seinen Anteil daran hat, dass die Lage beschönigt werde. Woran machen Sie das fest?

    Gottlieb: Der Journalismus wird zu stark von den Großstädten und ihrer Kultur geprägt, von Berlin, München, Hamburg. In Amerika hat das dazu geführt, dass Donald Trump keiner richtig auf dem Zettel hatte, in Großbritannien war das beim Brexit ähnlich. Es gibt viele Menschen in Deutschland aus ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen, die sagen, ich komme mit meiner Meinung in diesem Land nicht mehr durch und die sagen, ich fühle mich da auch nicht mehr wahrgenommen. Das ist ein gesellschaftliches Problem.

    Nun waren Sie selbst Jahrzehnte Journalist und als Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens in herausragender Position, um dem etwas entgegenzusetzen…

    Gottlieb: Der Journalismus tut sich schwer mit politischer Ausgewogenheit. Das trifft auf alle Medien zu. Es gibt Untersuchungen, dass sich zwei Drittel bis drei Viertel der Journalisten politisch links verorten. Es existiert da noch eine kleinere liberale Fraktion, aber dezidiert Konservative gibt es kaum. Und natürlich werden die Themen Zuwanderung, Islam und Patriotismus dadurch nicht aus allen Perspektiven behandelt. Der Konservative hat es schwer – nicht nur im Journalismus, auch in der Politik – und trotz eines Friedrich Merz an der Spitze der CDU.

    Dabei waren Sie…

    Gottlieb: Schwarz wie die Nacht, wollten Sie sagen. Das habe ich überhört. Trotzdem ist es mir nicht immer gelungen, Mitarbeiter politisch ausgewogen zu rekrutieren. Das hatte Gründe. Wenn ein sehr guter Bewerber politisch links stand und der Konservative Mitbewerber nur Durchschnitt war, dann habe ich mich für den sehr guten entschieden. Die Gesinnungen müssen im Journalismus, auch im Öffentlich-Rechtlichen ausgewogen sein.

    Nicht nur das Land steckt in der Krise, sondern auch sein öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Mehrere Skandale und Skandälchen erschüttern die Sender. Was muss sich ändern?

    Gottlieb: Ich war ein Mann der Öffentlich-Rechtlichen. Ich kenne ARD und ZDF. Dort wird exzellenter Journalismus betrieben. Es gibt keinen Grund, daran rumzunörgeln. Die, die das tun, haben wirtschaftliche Interessen. Übrigens wollte ich damals als Chefredakteur einen Dienstwagen haben, weil ich sehr viel unterwegs war. Er wurde mir nicht bewilligt. Man hat schon damals sehr auf die Kosten geachtet. Jetzt natürlich noch mehr.

    Herr Gottlieb, haben Sie ein Rezept dafür, wie sich die Nation zum besseren Wandeln kann?

    Gottlieb: Als Journalist bin ich Beobachter und Gesprächspartner vieler Menschen. Das sind die Quellen, aus denen sich dieses Buch speist. Sie ergeben die Diagnose. Für die Therapie sind andere besser geeignet. Am Ende des Buches habe ich mir jedoch drei Gedanken gemacht, auf die es jetzt ankommen könnte.

    Na dann raus damit…

    Gottlieb: Deutschland braucht eine neue Sorgfalts-Anstrengung, die unserer Zufriedenheit mit dem Durchschnitt etwas entgegensetzt. Die engagierte Bürgerschaft muss den Politikerinnen und Politikern auch zwischen den Wahlterminen deutliche Zeichen geben, womit sie nicht zufrieden sind. Schließlich warten wir alle sehnlich auf eine neue Ruckrede, so wie sie Bundespräsident Roman Herzog 1997 gehalten hat und die unser Land wenigstens für kurze Zeit aufgerüttelt hat.

    Zur Person: Sigmund Gottlieb war als Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens von 1995 bis 2017 die konservative Stimme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wegen seiner CSU-Nähe zog er aber auch immer wieder Kritik auf sich. Vor fünf Jahren ging er in den Ruhestand und hat seither vier Bücher veröffentlicht.

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