Herr Troianovski, Sie leiten das Moskauer Büro der „New York Times“. Im März letzten Jahres ist Ihr Kollege Evan Gershkovich, der Korrespondent des „Wall Street Journal“, vom berüchtigten russischen Geheimdienst FSB wegen angeblicher Spionage festgenommen worden. Wie bewerten Sie den Vorfall?
ANTON TROIANOVSKI: Die Verhaftung war ein wirklicher Tabubruch. In den Jahren, in denen der russische Präsident Wladimir Putin an der Macht ist, ist zwar großer Druck auf russische Journalisten ausgeübt worden. Sie werden verhaftet, manchmal auch getötet. Aber ausländische Journalisten konnten eigentlich ziemlich frei in Russland arbeiten. Gleichwohl hatte man immer die Angst, dass es auch irgendwann einmal ausländische Journalisten treffen könnte. Mit der Verhaftung von Evan Gershkovich, er war damals auf einer Recherchereise in Jekaterinburg, ist das tatsächlich passiert.
Sie waren damals aus Sicherheitsgründen nicht mehr in Ihrem Moskauer Büro, sondern arbeiteten von Berlin aus, wo wir auch heute miteinander sprechen. Wie haben Sie und die anderen Auslandskorrespondenten von der Festnahme erfahren und wie haben Sie reagiert?
TROIANOVSKI: Es war ein Schock. Es war das, was auch ich in meinen Jahren als US-Korrespondent in Moskau immer gefürchtet hatte. Ich höre jeden Morgen eine YouTube-Live-Sendung, die von ehemaligen russischen Radiojournalisten gemacht wird, und da wurde die Nachricht bekannt gegeben. Sie hat sich dann bei uns Auslandskorrespondenten sofort herumgesprochen. Am 30. März, dem Abend nach der Verhaftung, trafen sich Kollegen und Freunde von Evan bei einer Freundin von ihm in Berlin. Wir haben versucht, diesen Schock zusammen zu verarbeiten.
Wie ging es dann weiter?
TROIANOVSKI: Natürlich ist ja die erste Reaktion: Was kann man machen, wie kann man ihm helfen? Wenn man über Russland berichtet, hat man ziemlich viel Erfahrung mit Fällen, in denen Journalisten verhaftet werden. Wir wussten also zum Beispiel, welche Anwälte und russischen Journalisten sich mit solchen Fällen auskennen. Mit ihnen konnten wir klären, wie man ins Gefängnis Briefe schickt oder Kleidung und Essen übergibt. Evan wurde zunächst ins Lefortowo-Gefängnis gebracht. Es ist ein ganz berüchtigtes Gefängnis in Moskau, in dem schon zu Sowjetzeiten Dissidenten festgehalten wurden. Man hat sich auch um seine Familie gekümmert, Evans Eltern und seine Schwester wohnen in den USA.
Haben Sie Kontakt zu ihm?
TROIANOVSKI: Derzeit nicht, es ist gerade sehr schwer. Als er im Lefortowo-Gefängnis war, haben ihm viele Menschen Briefe geschrieben. Wir haben die E-Mail-Adresse freeGershkovich@gmail.com eingerichtet. Man kann ihm da schreiben, die Mails werden ins Russische übersetzt, ausgedruckt und ins Gefängnis geschickt. Ich bin sehr, sehr beeindruckt von Evans Stärke. Es sind ja jetzt fast 16 Monate vergangen. Er hat immer noch seinen alten Humor und vor allem die Hoffnung, dass das irgendwann zu Ende gehen wird.
Sie kennen Evan Gershkovich persönlich und die Sache ist offensichtlich. Gleichwohl: Was macht Sie so sicher, dass er nicht tatsächlich ein Spion ist?
TROIANOVSKI: Russland hat nicht einmal versucht, der Öffentlichkeit irgendwelche Beweise zu zeigen. Es ist ganz klar, dass Evan nur seine Arbeit gemacht hat. Und: Der FSB nahm ihn mit der Begründung fest, er habe Informationen zum militärisch-industriellen Komplex Russlands gesammelt. Unmittelbar danach erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass Evan auf frischer Tat ertappt worden sei. Diese Erklärung hat deutlich gemacht, dass es eine Entscheidung von Wladimir Putin war. Normalerweise wiegelt der Kreml bei kontroversen Festnahmen immer ab und sagt: Ach, wir haben nichts damit zu tun, das ist Sache der Justiz. In diesem Fall war es das klare Signal, dass der Kreml zu 100 Prozent hinter diesem Schritt steht.
Warum tut Putin das?
TROIANOVSKI: Es gibt meines Erachtens drei Gründe für diese Verhaftung. Putin wollte dem Westen zeigen, insbesondere den USA, dass er zur Eskalation bereit ist. Es war zweitens ein weiterer Fall dieser Geiselnahme-Politik, die Putin gegen die USA führt. Wir hatten zum Beispiel Brittney Griner, die Basketballspielerin, die dann gegen einen russischen Waffenhändler ausgetauscht wurde. Drittens geht es Putin um die Einschüchterung von Journalisten. Er wollte ihnen Evans Verhaftung zeigen, dass sie vorsichtig sein sollen. Sie ist ein riesengroßer Einschnitt in die Pressefreiheit und ein Angriff auf alle, die an den Ereignissen auf der Welt interessiert sind.
Herr Gershkovich ist zu 16 Jahren Haft verurteilt worden. Wie bewerten Sie das Strafmaß?
TROIANOVSKI: Es ist brutal. Es ist unfassbar, dass jemand 16 Jahre Haft bekommt, nur weil er einfach seine Arbeit gemacht hat.
Es wird auch in diesem Fall über einen Gefangenenaustausch spekuliert. Der sogenannte Tiergartenmörder, ein mutmaßlicher FSB-Agent, könnte infrage kommen. Wie sehen Sie das?
TROIANOVSKI: Sowohl die Russen als auch die Amerikaner haben in den letzten Monaten öffentlich gesagt, dass Gespräche im Hintergrund laufen. Aber wir wissen nicht, wie weit diese sind.
Kann der sich anbahnende Wechsel im Weißen Haus einen Austausch beschleunigen?
TROIANOVSKI:: Ganz wichtig ist, dass Republikaner wie Demokraten in den USA für die Freilassung von Evan werben. Aber es gibt gerade sehr viel Ungewissheit in der amerikanischen Politik. Deswegen kann man nur spekulieren. Ich hoffe sehr auf Unterstützung für Evan Gershkovich. Je früher, desto besser.
Zur Person: Anton Troianovski wurde am 8. Dezember 1985 in Moskau geboren. Vier Jahre später zogen seine Familie und er nach Heidelberg, später nach St. Louis (Missouri). Seine journalistische Karriere begann er 2008 als Reporter für das Wall Street Journal in New York. 2013 wechselte er für die Zeitung nach Berlin. 2018 leitete er das Moskauer Büro der Washington Post, ab 2021 das der New York Times. In Folge des Ukraine-Krieges erließ Moskau neue Zensurgesetze, Troianovski verließ wie viele andere ausländische Korrespondenten als Reaktion das Land und arbeitet seitdem von Berlin aus. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, er gehörte zu dem Team der Times, das 2023 für seine Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine einen Pulitzer-Preis erhielt.
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