„Nichtwissen ist tödlich“, so lautet der Titel Ihres neuen Buches über den Nahen Osten und die Rolle der Geheimdienste. Waren Sie, Herr Conrad, überrascht, dass Israel trotz seiner legendären Geheimdienste von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 unvorbereitet getroffen wurde?
Gerhard Conrad: Durchaus. Auch wenn man die abschließenden Analysen abwarten muss. Da gab es ganz offensichtlich professionelle Fehleinschätzungen auf allen Ebenen. Der Ablauf ist in der Theorie einfach: Man beschafft zunächst Informationen und bewertet diese in ihrer sachlichen Relevanz und Glaubhaftigkeit. Daraus fertigt man dann ein Lagebild, das - meist auf einem Instanzenweg - den Entscheidungsträgern in Politik und Militär zukommt, die dann handeln müssen. Auf dieser Strecke muss einiges schiefgelaufen sein. Aus israelischen Medien weiß man, dass es durchaus Hinweise der Geheimdienste gab, dass die Hamas einen Großangriff plante. Es sieht so aus, dass die Fäden nicht zusammengefügt wurden, weil wichtige Akteure der Überzeugung waren, dass die Hamas zu einer solch komplexen Operation gar nicht in der Lage sein würde.
Was können deutsche Dienste daraus lernen?
Conrad: Alle können daraus wieder einmal lernen, dass Überheblichkeit und Wunschdenken fatal sind. Bei existenziellen Bedrohungen darf gerade auch der Worst Case nicht ausgeschlossen werden. Und genau dies ist ja auch hier insbesondere mit Blick auf Russland bekanntlich lange passiert. Die Dimension der Gefahr ist von der Politik heruntergespielt worden, obwohl sie für jeden sichtbar von Wladimir Putin sogar öffentlich formuliert wurde.
„Nachrichtendienste sind auch nur Menschen“, schreiben sie mit ironischem Unterton. Wie wichtig ist der Faktor Mensch, also gut ausgebildetes Personal? Wie kamen Sie zum BND?
Conrad: In ihren Erfolgen und Misserfolgen spiegeln Nachrichtendienste im Grunde die Stärken und Schwächen der Menschen wider, die bei ihnen arbeiten. Mein Weg in den BND hat sich eigentlich recht folgerichtig entwickelt: Ich war Islamwissenschaftler, Politologe und Völkerrechtler, darüber hinaus als Lagestabsoffizier in den 80er Jahren im Verteidigungsministerium bei Wehrübungen für Nahost eingesetzt. Zu den Zulieferern von Informationen gehörte der Bundesnachrichtendienst. So gab es Kontakte, die mich zum BND geführt haben. Das Interesse war beidseitig. Im Kalten Krieg wäre eine Initiativbewerbung – also von außen - nicht möglich gewesen; man musste dem BND aus dessen erprobten Umfeld empfohlen werden. Dahinter stand die Furcht, dass der KGB oder die Stasi eigene Leute dort unterbringen.
Wie müsste eine effektivere Personalgewinnung aussehen?
Conrad: In Zeiten des demografischen Wandels ist es besonders schwer, eine ausreichende Zahl spezifisch qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten. Da geht es längst nicht nur um die Höhe der Besoldung. Wenn man nicht genügend Expertise werben kann, dann muss man junge Talente selbst zu Fachleuten ausbilden. Das dauert Jahre, kostet viel Geld. Doch anders geht es nicht. An der Personalfront wird über das Schicksal der Geheimdienste entschieden - und damit auch über unsere Sicherheit.
Bei der Bundeswehr hat sich gezeigt, dass übersteigerter Korpsgeist hohe Risiken mit sich bringt. Wie ist das bei Geheimdiensten?
Conrad: Selbstglorifizierung oder Kameraderie sind Gift für jede Institution. Sie führen zu Fehlern, Vertuschung und schlimmstenfalls zu mangelnder Rechtstreue und Loyalität gegenüber dem Dienstherrn. Hier ist Führungskraft auf allen Ebenen gefordert.
Lähmt die Bürokratisierung die Kreativität in Geheimdiensten?
Conrad: In bürokratischen Strukturen besteht die Gefahr, dass Verfahrensabläufen mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als den Ergebnissen. Dem muss konsequent entgegengewirkt werden.
Kanzler Scholz hat 2022 eine Zeitenwende für die Verteidigungspolitik ausgerufen. Doch nun ist seine Ampel-Regierung Geschichte.
Conrad: Immerhin hat ein Umdenken begonnen. Nehmen Sie das 1956 gegründete Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages, kurz PKGr. Vor und nach der Wende ging es den meisten Mitgliedern des Gremiums immer nur darum, die „bösen“ Geheimdienste an die Leine zu nehmen. Kaum jemand hat sich gefragt, wie die Dienste personell, materiell und rechtlich in den Stand versetzt werden können, ihren Auftrag zu erfüllen. Das ist absurd. Hier scheint angesichts der potenziell dramatischen Gefahren ein Umdenken im Gange zu sein.
Wo machen Sie die größten Bedrohungen für unsere Sicherheit aus?
Conrad: Aktuell reden wir über zunehmend gefährliche Sabotage der kritischen Infrastruktur bis hin zu Anschlägen mit Brandsätzen auf den Luftverkehr - also im Grunde auch über Terrorismus. Auf mittlere Sicht sind wir konfrontiert mit einer massiven Aufrüstungspolitik Russlands, mit hybrider Kriegsführung und Kampagnen der russischen Dienste zur Destabilisierung von Gesellschaft und Staat im Westen. Ziel ist es, Nato und EU im machtpolitischen „Teile und herrsche“-Verfahren von innen zu schwächen und zu spalten. Dass diese Taktik verfängt, zeigt sich auch an den Erfolgen von AfD und BSW. Darauf muss eine neue Regierung entschlossen reagieren.
Was kann diese neue Regierung kurzfristig tun, um „tödliches Nichtwissen“ zu verringern?
Conrad: Einen schweren Tanker kann man nicht schnell stoppen und auf einen neuen Kurs bringen. Bei der Personalgewinnung und -entwicklung muss man in Zeiträumen von Jahren denken, doch muss jetzt gehandelt werden. Gleiches gilt für die notwendige Intensivierung der nach Ende des Kalten Kriegs sträflich vernachlässigten Gegenspionage. Ich denke nur daran, wie schwierig es wäre, beispielsweise Quellen beim russischen Geheimdienst FSB zu werben und zu führen. Kurzfristig kann man Befähigungen und Befugnisse bei der Fernmeldeaufklärung und Cyber-Operationen den Verhältnissen westlicher Verbündeter anpassen.
Wachsende Teile der Bevölkerung reagieren gereizt auf Ankündigungen, mehr Geld für Rüstung oder Geheimdienste auszugeben. Besorgt Sie diese Tendenz?
Conrad: Das muss uns besorgen, da sie erkennen lässt, dass man immer noch nicht den Schuss gehört hat. Jetzt sehen wir, was passiert, wenn man über 30 Jahre hinweg in Realitätsverweigerung geopolitischer Sachverhalte gelebt hat. Wir sind eben nicht nur von Freunden umgeben. Anschauungsmaterial, wie es uns ergehen würde, ließen wir die Dinge treiben, gibt es mit Blick auf die Ukraine, auf Russland selbst oder auch auf den Nahen Osten mehr als genug. In welcher Welt wollen wir denn leben? Wollen wir unsere Freiheiten, unsere Lebenssicherheit, die Zukunft der nächsten Generation sang- und klanglos aufgeben?
Kritiker fürchten, dass Bürgerrechte zugunsten sicherheitspolitischer Ziele eingeschränkt werden.
Conrad: Ich wähle hier bewusst eine Maxime, die im demokratisch geprägten angloamerikanischen Raum ihren Ursprung hat: „Strong capabilities need strong oversight“ - was so viel bedeutet, wie „Starke Fähigkeiten brauchen eine starke Aufsicht“. Aber ohne ausreichend starke Fähigkeiten zur Selbstbehauptung kann man sich den Rest gleich sparen.
Gerhard Conrad, geboren 1954, arbeitete 30 Jahre für den BND. Conrad verhandelte etwa mit Terrororganisationen und Regierungen den Austausch von Gefangenen. Später war er ranghöchster ziviler Nachrichtendienstmitarbeiter auf europäischer Ebene. Sein aktuelles Buch „Nichtwissen ist tödlich“, 256 Seiten, 24,99 Euro erscheint im Econ Verlag.
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