Frau Kohlenberger, es wird erbittert über die EU-Pläne zur Asylpolitik debattiert. Von "historischer Durchbruch“ bis hin zu dem Satz "Europas Flüchtlingspolitik wurde auf ein Niveau der Schäbigkeit harmonisiert“, vom Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin, reichen die Reaktionen. In welche Richtung neigen Sie?
Judith Kohlenberger: Einen historischen Durchbruch sehe ich nicht. Auf dem Papier gibt es zwar gewisse Verschärfungen. Doch vieles, was jetzt als Erfolg verkauft wird, ist bereits möglich. So wie Schnellverfahren oder haftähnliche Lager. Wir haben viele Regeln, die nicht mehr durchgesetzt werden. Ich denke da an Ungarn oder Mittelmeer-Anrainerstaaten, die sich zum Teil im offenen Bruch mit der EU-Aufnahmerichtlinie befinden. Doch die Rechtsverletzungen werden nicht geahndet.
Kann das Dauerflüchtlingsdrama auf See durch einen solchen Kompromiss überwunden werden?
Kohlenberger: Ich sehe nicht, wie mit schnellen Verfahren an den Grenzen und der in der Praxis nur schwer umsetzbaren Idee einer raschen Rückführung in die Herkunftsländer erreicht werden kann, dass weniger Menschen die Fahrt über das Mittelmeer wagen. Manche Experten äußern die Hypothese, dass das Gegenteil der Fall sein könnte. Schutzsuchende könnten einen Versuch sogar eher wert finden, wenn in den Asylzentren ohnehin rasch, innerhalb von nur zwölf Wochen, entschieden wird.
Wie kann der Balanceakt zwischen Pragmatismus und Empathie für das Schicksal der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, gelingen?
Kohlenberger: Die Interessen derjenigen, die am unmittelbarsten von dieser Reform betroffen sind, müssten schon aus humanitären Gründen berücksichtigt werden. Aber auch im Sinne eines aufgeklärten Eigennutzes der EU, denn man wird die Zahl der Überfahrten über das Meer nur verringern können, wenn man die Motivation dieser Menschen kennt. Da geht es um grundlegende Migrationsdynamiken, um Fluchtursachen oder den Wunsch, dahin zu gehen, wo schon viele aus der Community leben – wenn man dies nicht einbezieht, dann wird die Reform keinen Erfolg haben.
Geplant ist die Einrichtung von Asylzentren an den EU-Außengrenzen, in denen Menschen mit geringen Chancen auf eine Aufnahme von der Einreise abgehalten werden sollen.
Kohlenberger: Die EU-Kommissarin für Inneres, Johansson, hatte gesagt: "Keine Morias mehr.“ Doch an der Einhaltung dieses Versprechens zweifele ich sehr. Moria auf der Insel Lesbos war zunächst als befestigte Unterkunft für wenige tausend Menschen ausgelegt. Doch in Spitzenzeiten waren 12.000 Personen untergebracht; rund um das Zentrum hatte sich eine Zeltstadt ausgebreitet, in der die Zustände immer schlimmer wurden. Solche Überbelegungen kann man kaum verhindern, wenn es zu neuen Konflikten mit hohem Fluchtaufkommen kommt.
Österreich will Auffanglager außerhalb der EU einrichten.
Kohlenberger: Europa läuft damit Gefahr, sich von Drittstaaten mit zweifelhafter Menschrechtslage abhängig zu machen. Dafür ist die EU-Türkei-Erklärung die Blaupause. Der Deal hat zwar kurzfristig die Ankunftzahlen in Europa verringert – langfristig haben wir uns damit aber mehr Probleme eingehandelt. Im Falle des jüngsten Abkommens mit Tunesien fürchte ich ein ähnliches Szenario. Wenn man dort zehntausende Flüchtlinge unterbringt, kann Tunis der EU jederzeit damit drohen, Flüchtlinge loszuschicken und die Union so zu destabilisieren.
Seit Jahren wird gefordert, die Lage in den Herkunfts- und Transitländern zu verbessern, um das Flüchtlingsaufkommen zu senken. Ist das realistisch?
Kohlenberger: Der Hauptgrund für Flucht – gemeint ist nicht Migration – sind nach wie vor Menschenrechtsverletzungen. Also die Verfolgung aufgrund Zugehörigkeit zu einer politischen, sozialen oder ethnischen Minderheit. Gegen diese Fluchtgründe tut die EU wenig bis nichts – im Gegenteil, oft werden Regime, von denen man weiß, dass sie Menschenrechte verletzen, noch gestärkt. Das ist absolut widersprüchlich. Ich fürchte, dass Menschen, die politisch verfolgt werden, aber aus Ländern kommen, in denen kein Krieg herrscht und die eine Anerkennungsquote von unter 20 Prozent aufweisen, in den Asylzentren ihr Recht nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht bekommen und durch die Maschen fallen. Das andere ist, dass sich Fluchtursachen und Gründe für Migration oft gar nicht genau trennen lassen. Auch aufgrund tiefer Wirtschaftskrisen oder den Folgen des Klimawandels verlassen Menschen unfreiwillig ihr Land. Es ist aber nicht gesagt, dass diese Leute unter den geltenden Regeln das Recht auf Asyl bekommen. Da sollte man Möglichkeiten zur legalen Arbeitsmigration neu denken.
Welche Punkte müsste die EU Ihrer Ansicht angehen, um zu einer effektiveren Asylpolitik zu kommen?
Kohlenberger: Wenn die Rückführung gelingen soll, muss man den Herkunftsländern etwas anbieten, wie zum Beispiel Visaerleichterungen für reguläre Migration. Ein Schlüssel zur Senkung irregulärer Migration ist es, legale, reguläre Zugangswege auszubauen. Das gilt auch für Flucht vor Verfolgung. Ein weiterer Punkt wäre, den sogenannten Spurwechsel zu erleichtern, also die Möglichkeit als Asylbewerber in die Kategorie Arbeitsmigrant zu wechseln, wenn im Aufnahmeland der Bedarf dazu besteht. Ein Kernproblem ist für mich, dass man jetzt eine Reform macht, ohne erst einmal zu schauen, wie wir bestehende Regeln überhaupt umsetzen können. Somit schleppt man das Problem der fehlenden Durchsetzbarkeit mit in die Reform. Die Mitgliedstaaten haben leider gelernt, dass ihnen nichts passiert, wenn sie Regeln ignorieren. Ungarn kann das Asylrecht aussetzen, Griechenland kann rechtswidrig Flüchtlinge zurückdrängen. Polen hat angekündigt, die Reform nicht mitzutragen und weder Flüchtlinge aufzunehmen noch Kompensationszahlungen zu leisten. Ohne Vertragsverletzungsverfahren und Sanktionen wird es nicht gehen – zunächst gegen Ungarn und Griechenland.
Judith Kohlenberger, 36, ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien.