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Interview: "Alle Angriffe von außen schweißen AfD und Anhängerschaft noch enger zusammen"

Interview

"Alle Angriffe von außen schweißen AfD und Anhängerschaft noch enger zusammen"

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    Der Wahlforscher Jürgen Falter analysiert im Interview den Ausgang der Europawahl und ihre Folgen für den Bund.
    Der Wahlforscher Jürgen Falter analysiert im Interview den Ausgang der Europawahl und ihre Folgen für den Bund. Foto: picture alliance

    Herr Professor Falter, welche bundespolitischen Signale gehen von dieser EuropawahlMacron kündigt nach Niederlage Parlamentsauflösung anEuropawahl 2024 aus?
    JÜRGEN FALTER: Das wichtigste bundespolitische Signal ist die Abstrafung der AmpelparteienDiese Europawahl ist ein Misstrauensvotum gegen die AmpelKommentar. Die Verluste der GrünenEuropawahl: Das Ende der grünen HegemonieKommentar übertreffen ihre schlimmsten Erwartungen. Die SPD fährt ihr schlechtestes bundesweites Ergebnis ein. Auch wenn sich die FDP einigermaßen halten konnte, wird das Regieren für die Ampel-Koalition jetzt noch unangenehmer. In Berlin ringt jetzt nicht nur die FDP um ihre Bedeutung. Wir haben ab jetzt drei Parteien, die um scharfe Profilierung und ihr Überleben an der Macht kämpfen. Das bringt noch mehr Streit und Ärger in der Koalition. Nach der Europawahl wird das Regieren in Berlin nicht leichter, sondern schwerer.

    Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich großflächig plakatieren lassen. Ist der Kanzler geschwächt?
    FALTER: Es war strategisch alles andere als klug, einen unpopulären Kanzler auf Plakate für eine Wahl zu drucken, bei der er überhaupt nicht antritt. Damit gewinnt man keine Stimmen. Im Gegenteil: Bundeskanzler Scholz ist durch dieses Wahlergebnis geschwächt. Es wird in der SPD zwar keine offene Führungsdebatte geben, aber im Hintergrund werden viele die Frage stellen, ob Olaf Scholz der richtige Spitzenkandidat für die Bundestagswahl ist. Das schwächt Scholz zusätzlich.

    Die Union hat trotz des Unmuts über die Koalition ähnlich wie 2019 abgeschnitten. Was heißt das für CDU-Chef Friedrich Merz?
    FALTER: Angesichts der zunehmenden Zersplitterung des Parteiensystems kann Friedrich Merz ein durchaus achtbares Ergebnis vorweisen. Das wird seine Position im Rennen um die Kanzlerkandidatur stärken. Die Union ist immerhin allein stärker als SPD und Grüne zusammen.

    Wirkt der Absturz der Grünen brutal oder fällt die Partei auf ihr frühes Normalmaß zurück?
    FALTER: Die Grünen erleben einen harten Absturz auf ihre Kernwählerschaft. Diese Menschen wählen die Partei aus voller Überzeugung, aus Sorge über den Klimawandel und aus eher linken Motiven, auch wenn die Partei durch ihre Ukraine-Politik viele pazifistisch gestimmte Anhänger vor den Kopf gestoßen hat. Über ihre Kernwählerschaft hinaus erleben die Grünen aber das Problem, dass sie sich selbst an der Macht entzaubert haben, nicht zuletzt durch das missratene Heizungsgesetz. Momentan klingt es bei diesem Wahlergebnis etwas lächerlich, wenn Robert Habeck offenbar nach der Kanzlerkandidatur greift. Durch die Fehler in seinem Bereich könnte Annalena Baerbock am Ende doch im Vorteil sein, zumal sie als Frau in der grünen Wählerschaft und Partei am Ende stärker punkten könnte.

    Die AfD hat erstmals bundesweit als zweitstärkste Partei abgeschnitten. Ist das eine Zäsur?
    FALTER: Für die AfD ist der Wahlausgang angesichts der Skandale im Vorfeld und eines miserablen Wahlkampfs ein sehr beachtliches Ergebnis. Dass die AfD trotz des massiven Gegenwinds so erfolgreich abgeschnitten hat, zeigt, dass die Partei inzwischen eine starke, ihr eng verbundene Stammwählerschaft besitzt. Der harte Kern der AfD-Wähler lässt sich weder durch Skandale ihres Spitzenpersonals noch durch öffentlichen Druck in ihrer Wahlentscheidung beirren. Das bedeutet für die kommenden Landtagswahlen, dass mit sehr hohen AfD-Ergebnissen zu rechnen ist, und auch im Bund könnte sie im September kommenden Jahres die 20-Prozent-Marke überschreiten.

    Warum scheint die AfD gegen so viele Skandale immun?
    FALTER: Nicht nur die Parteimitglieder, sondern auch die Wählerschaft der AfD zeichnet inzwischen eine Art Festungsmentalität aus. Alle Angriffe von außen schweißen die AfD und ihre Anhängerschaft noch enger zusammen. Sie haben das Gefühl, die Medien, bestimmte Teile der Öffentlichkeit und sogar die Justiz seien gegen sie. Diese Menschen zeichnet nicht nur ein Protest gegen eine konkrete Politik aus, sondern ein Missbehagen an und eine wachsende Distanz gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik. Daher scheint es vielen AfD Wählern egal zu sein, was um sie herum passiert.

    Wo liegen die tieferen Ursachen für den AfD-Erfolg?
    FALTER: Hauptgrund, das weiß man aus Umfragen, ist zweifellos die Kritik an der Migrationspolitik. Eine Angst vor einer großen Zahl an Migranten, die inzwischen das Bild der Städte verändert haben. Es ist aber auch eine Art Protest von unten gegen oben. Seit vielen Wahlen hat die AfD einen viel größeren Arbeiteranteil unter ihren Wählern als die anderen Parteien. Das deutet darauf hin, dass sich viele Menschen abgehängt und im politischen System nicht mehr ausreichend vertreten fühlen. Auch an den Debatten über das Gendern oder sogenannte „woke Politik“ zeigt sich, dass viele eine ganz andere Lebensrealität empfinden.

    In diese Kerbe schlägt auch Sahra Wagenknecht. Kann sich ihre BSW-Partei jetzt etablieren?
    FALTER: Für eine frisch gegründete Partei ohne schlagkräftige Organisation ist das Ergebnis des BSW ein beachtlicher Erfolg. Sahra Wagenknechts Mischung aus konservativer Gesellschaftspolitik und sozialen Themen bis hin zu sozialistischen Vorstellungen kommt bei einem Teil der Wähler offensichtlich gut an. Dabei nimmt sie der AfD viel weniger Wähler ab, als viele erhofft hatten.

    Ist die hohe Wahlbeteiligung ein gutes Zeichen für Europa?
    FALTER: Der Wahlkampf war etwas lahm, und das Parlament ist nicht so stark wie der Bundestag. Nachrichten aus der EU spielen selten eine große Rolle. Für Europawahlen sind 66 Prozent ein sehr guter Wert. Angesichts der Bedeutung, die Europa für uns hat, ist das aber viel zu wenig.

    Zur Person

    Jürgen Falter ist einer der bekanntesten deutschen Politikwissenschaftler. Der 80-Jährige forscht an der Johannes-Gutenberg-Uni.

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